Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
bevorstehende Eintauchen ins Jenseits, auf das sich der Sterbende bewusst vorbereitete?
    Da fiel Bilodo auf, dass sich der Brief nicht länger in der Hand des Toten befand. Grandprés Griff musste sich im Augenblick seines Ablebens gelockert haben und der Brief in den Rinnstein gefallen sein, wo er sogleich von der Strömung fortgerissen worden war. Bilodo sah, wie er, stromabwärts zwischen den Füßen der Schaulustigen hindurchtreibend, aus dem Kreis der Trauernden vom strudelnden Wasser davongetragen wurde, das tosend zur Kaskade eines Abwasserrostes strömte. Entsetzt stürzte er los, stieß die Zeugen der Tragödie beiseite, denn er musste den Brief um jeden Preis zurückhalten. Er lief, beugte sich hinab, streckte die Hand aus, um ihn zu erwischen, spürte, wie sein Arm immer länger wurde, seine Finger ins Unendliche wuchsen und ihn berührten   … doch den Bruchteil einer Sekunde zu spät: Der Gully verschluckte den Brief. Im Eifer des Gefechts rutschte er aus und landete rücklings im kalten Wasser. Ein Blitz zuckte indem Augenblick über den Himmel, als Bilodo ein ebenso erhellendes Licht aufging: Mit dem Verschwinden dieses Briefes im Innern der Erde war soeben seine einzige Verbindung zu Ségolène abgerissen.

6
    Als er tags darauf seine übliche Runde begann, war Bilodo in gedrückter Stimmung und hatte den Eindruck, als sei auch die Sonne in Trauer, als spendete sie nur ein kaltes Licht wie das in alten Schwarz-Weiß-Filmen. In der Rue des Hêtres blieb er auf dem Bürgersteig stehen, genau an der Stelle, wo Grandpré gestürzt war, und stellte befremdet fest, dass von der Tragödie nicht die geringste Spur geblieben war, nicht einmal ein kleiner Blutfleck. Der Regen hatte alles fortgespült. Bilodo ließ das quälende Bild des vom Gully verschluckten Briefes nicht los. Er machte sich Vorwürfe, nicht wachsamer gewesen zu sein. Hätte er ihn nur abgefangen und gelesen, dann wüsste er wenigstens, was Grandpré an Ségolène schrieb! Hätte er ihn später überhaupt eingeworfen? Bestimmt, auch wenn er das Unausweichliche nur aufgeschoben hätte, aber es war müßig, darüber nachzudenken. Ségolène würde den Brief nicht erhalten; sie würde ihn demnachauch nicht beantworten, und Bilodo würde nie wieder ihre Gedichte lesen. Grandprés Tod kündigte das Ende dieser kostbaren Korrespondenz an, die die Würze seines Lebens ausmachte. Gab es etwas Grauenvolleres als Machtlosigkeit?
    Kurz darauf stand Bilodo vor der Tür des Verstorbenen und schob die üblichen Rechnungen und Rundschreiben durch den Briefschlitz, obwohl er wusste, dass es vergebens war, dass die Post sich auf der anderen Seite nur weiter stapelte, bis schließlich ein »Antrag auf Beendigung der Postzustellung« im Postamt eintreffen würde. Er malte sich die unbekannte Wohnung aus, in der von nun an Stille herrschen und die Zeit stillstehen würde, in der lediglich ein paar Möbel und Gegenstände, ein paar an den reglosen Haken hängende Kleidungsstücke, ein paar Fotos, ein paar Schriftstücke von Grandprés Durchreise in dieser Welt zeugen würden.

    Grandprés Tod erregte im Viertel kein größeres Aufsehen, da man ihn kaum kannte. Im »Madelinot« legte Tania eine Nelke auf den Tisch, an dem er gewöhnlich gesessen hatte, wenn er kam und einen Kaffee trank. Das war alles. So ging man also durchs Leben, stellte Bilodo fest: ganz zufällig, ohne Wellen zu schlagen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, wie eine Schwalbe den Himmel durchquert, und so schnell wie ein aus Unachtsamkeitauf der Straße überfahrenes Eichhörnchen wurde man wieder vergessen.
    So war es eben.

    Nichts schien sich verändert zu haben. Bilodo stand im Morgengrauen auf und ging zur Arbeit, aß im »Madelinot« zu Mittag und kehrte dann nach Hause zurück. Sein Leben nahm offenbar seinen unerschütterlichen Lauf. Allerdings schien es nur so, denn unter der Oberfläche jenes spiegelglatten Meeres, das die tägliche Routine darstellte, vollzog sich ein leiser Wandel, dessen er sich kaum bewusst war. Zunächst war es nur eine Mattigkeit, eine verdrießliche Stimmung, die er dem Jahreszeitenwechsel, den kürzer werdenden Tagen, jenen Vorboten des Herbstes, zuschrieb, doch dann machten sich plötzlich die Symptome eines tiefer reichenden Unbehagens bemerkbar: Eines Abends stellte Bilodo beim Einsammeln der auf dem Boden verstreuten Korrespondenzen fest, dass ihm diese einst so faszinierende Beschäftigung auf einmal ganz uninteressant vorkam. Seine

Weitere Kostenlose Bücher