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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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    So wie das Wasser
    den Felsen umspült
    verläuft die Zeit in Schleifen
     
    Die Rue des Hêtres war vor allem mit Ahornbäumen bepflanzt. In zwei Reihen standen drei- und vierstöckige Wohnblöcke, zu deren oberen Stockwerken man über Außentreppen gelangte. Einhundertfünfzehn solcher Treppen gab es in der Straße, insgesamt waren es eintausendvierhundertfünfundneunzig Stufen. Das wusste Bilodo genau, denn er hatte die Stufen immer wieder gezählt, wenn er jede einzelne dieser Treppen allmorgendlich erklomm. Eintausendvierhundertfünfundneunzig Stufen, mit einer durchschnittlichen Höhe von zwanzig Zentimetern, alles in allem zweihundertneunundneunzig Meter. Mehr als eineinhalb Mal die Höhe der Place Ville-Marie. Den Eiffelturm schleppte er sich demnach Tag für Tag hinauf, ob bei Sonnenschein oder im Regen, vom Rückweg ganz zu schweigen. Bilodo empfand diesen vertikalen Marathon nicht etwa als besondere Leistung. Vielmehr sah er darin eine tägliche Herausforderung, ohnedie ihm sein Leben eher schal vorgekommen wäre. Er hielt sich für einen Athleten, den Langstreckengehern, jenen kühnen Trekkingspezialisten, nicht unähnlich, und bedauerte manchmal, dass es unter all den bewundernswerten Sportarten, bei denen es um Ausdauer ging, keine spezielle Kategorie fürs Treppenerklimmen gab. Bei eintausendfünfhundert Stufen oder zweihundertfünfzig Metern Auf- und Abstieg hätte er gewiss gut abgeschnitten. Wäre Treppensteigen eine olympische Disziplin gewesen, hätte Bilodo durchaus Chancen gehabt, sich zu qualifizieren und vielleicht sogar jene letzte, ruhmreiche Stufe, die oberste des Podiums, zu erklimmen.
    Wie dem auch sei, Bilodo war Briefträger.
    Er war siebenundzwanzig Jahre alt.

    Seit fünf Jahren machte Bilodo dieselbe Runde durch Saint-Janvier-des-Âmes, ein Arbeiterviertel, in das er gezogen war, um seinem Job näher zu sein. In all den Jahren war er dem Dienst nur einen einzigen Tag ferngeblieben, um an der Beerdigung seiner Eltern teilzunehmen, die bei einem Seilbahnunglück in Québec umgekommen waren. Man konnte ihn als zuverlässigen Angestellten bezeichnen.
    Morgens begann er im Briefzentrum damit, die tägliche Post zu sortieren. Es ging darum, jeden Umschlag, jedes Päckchen entsprechend ihrer Zustellung zu sortieren unddaraus Pakete zusammenzustellen, die ein Kollege dann mit seinem Postauto in verschließbaren Behältern am Wegesrand im Voraus deponierte. Diese stumpfsinnige Arbeit erledigte Bilodo mit außergewöhnlicher Schnelligkeit. Er besaß seine ganz persönliche Sortiermethode, die sowohl an die Technik des Croupiers beim Kartenausteilen als auch an die des Messerwerfers angelehnt war: Wie mit tödlicher Präzision katapultierte Klingen schnellten die Umschläge aus seiner Hand und flogen direkt in die entsprechenden Fächer. Er verfehlte nur selten sein Ziel. Dank seiner einzigartigen Geschicklichkeit war er lange vor den anderen fertig   – zum Glück, denn danach konnte er sich auf den Weg machen. Für Bilodo gab es nichts Schöneres, als im Freien zu sein, das Weite zu suchen, die frische Luft einzuatmen und den Duft eines neuen Tages in sich aufzusaugen, die Morgenstunden im Gehen zu erleben, ohne dass einem jemand sagte, was man zu tun hatte.
    Natürlich war nicht alles so rosig. Da waren die verdammten Rundschreiben, die es zu verteilen galt, die Rückenschmerzen, Zerrungen und sonstigen alltäglichen Verletzungen; ganz zu schweigen von der drückenden Affenhitze im Sommer, den herbstlichen Regengüssen, die einen bis auf die Haut durchnässten, dem Glatteis im Winter, das die Stadt in eine einzige gefährliche Eisfläche verwandelte, und von der Kälte, die einen beißen konnte wie seine natürlichen Feinde, die Hunde. Doch die moralische Genugtuung, für die Gemeinschaft unentbehrlichzu sein, wog sämtliche Nachteile auf. Bilodo hatte das Gefühl, am Leben des Viertels teilzuhaben, eine unauffällige, doch tragende Rolle darin zu spielen; für ihn war die Zustellung der Post ein Auftrag, den er in dem Bewusstsein erfüllte, auf diese Weise zur Bewahrung der Ordnung des Universums beizutragen. Er hätte mit niemandem auf der Welt tauschen wollen. Außer vielleicht mit einem anderen Briefträger.

    Bilodo aß mittags gewöhnlich im »Madelinot«, einem Restaurant in der Nähe des Briefsortierzentrums, und widmete sich nach dem Dessert eine Weile der Kalligraphie, jener Schreibkunst, die er als Amateur ausübte. Er holte Heft und Federn hervor, ließ sich an der Theke

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