Silberglocken
hinterlassen. Sie holt mich morgen doch nicht ab, und an Weihnachten kann ich auch nicht zu ihr kommen. Sie hat einfach zu viel zu tun. Ich hätte es mir denken müssen. Immer hat sie für alles Zeit, nur für mich nicht. Ich muss jetzt allein sein, um nachzudenken. Mach dir keine Sorgen, Mackenzie.”
9. KAPITEL
C arrie hätte gar nicht genau sagen können, warum Philips Bemerkung über Madam Fredrick und die anderen Hausbewohner sie eigentlich so tief getroffen hatte. Natürlich waren sie alle ihre Freunde, aber es war auch unbestreitbar, dass sie wirklich ein wenig merkwürdig und verrückt waren. Trotzdem. Sie waren alle so liebevolle, warmherzige Menschen, und es tat sehr weh, wenn Philip sie einfach so abtat.
Sie dachte noch immer darüber nach, als es an der Tür klingelte. Wer auch immer es war, viel Zeit schien er nicht zu haben. Denn sie war kaum aufgestanden, als es erneut klingelte, mehrmals hintereinander, kurz und ungeduldig.
“Ich komme!” rief sie.
Zu ihrer Überraschung stand Philip vor ihr. “Hast du Mackenzie gesehen?” wollte er ohne Einleitung wissen.
“Nein. Seit wir nach Hause gekommen sind, nicht mehr.”
Philip stieß geräuschvoll den Atem aus und rieb sich den Nacken. “Ihre Mutter hat ihr auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, dass sie sich leider nicht in der Lage sieht, sie wie vereinbart über die Feiertage zu sich zu holen”, erklärte er.
An seinem Kinn zuckte unkontrolliert ein kleiner Muskel. Ganz offenbar konnte er nur mit Mühe den Ärger über seine frühere Frau in Schach halten. “Sie hatte sich so auf ihre Mutter gefreut”, sagte er. “In den letzten Tagen hat sie über nichts anderes mehr gesprochen.”
Das hatte Carrie selbst mitbekommen. Mackenzie war viel bei ihr gewesen, und sie hatten lang und breit besprochen, was sie für den bevorstehenden Besuch anziehen, wie sie sich frisieren sollte. Für Mackenzie war es unendlich wichtig, wie sie aussah. Sie wollte ihre Mutter damit beeindrucken, wie erwachsen sie geworden war und welch erlesenen Geschmack sie besaß. Laura sollte stolz auf ihre große Tochter sein.
“Mackenzie ist weg. Sie möchte allein sein, hat sie mir geschrieben.” Philip sah auf die Uhr. Das hatte er vermutlich alle fünf Minuten getan, seit er den Brief seiner Tochter gefunden hatte. “Das war vor ungefähr eine Stunde. Hast du eine Vorstellung, wo sie sein könnte?”
“Keine Ahnung.” Carrie tat das Herz weh vor Mitgefühl mit dem Mädchen. Diese wenigen Tage mit der Mutter hatten ihr so viel bedeutet, und sie hatte sich so darauf gefreut. Seit Tagen hatten sich alle ihre Gespräche fast nur noch um ihre Mutter und die geplanten Ferien gedreht. Wie groß und schmerzhaft musste jetzt die Enttäuschung sein.
“Ich dachte, sie wäre vielleicht zu dir gekommen.” Philip rieb sich müde die Augen. “Ich weiß einfach nicht, wo ich nach ihr suchen soll. Fällt dir denn wirklich nichts ein?”
“Sicher ist, dass sie im Augenblick offenbar niemanden um sich haben möchte.” Carrie dachte angestrengt nach.
“Ob sie vielleicht einen Spaziergang macht?” meinte Philip. “Allein im Dunkeln?” Der Gedanke jagte ihm Schauer über den Rücken.
“Ich helfe dir suchen.”
Philip sah sie dankbar an, und Carrie schlüpfte in ihre Jacke und nahm die Tasche vom Haken. Dann machten sie sich eilig auf den Weg.
Kurz nachdem sie mit der High School fertig geworden war und gerade achtzehn Jahre jung war, hatte Carrie den Entschluss gefasst, sich auf die Suche nach ihrem Vater zu machen. Und sie hatte ihn auch gefunden. Aber seine Begeisterung über ihr Auftauchen war nicht sehr groß gewesen, um es milde zu beschreiben. Er glaubte offenbar, dass sie etwas von ihm haben wollte, und in gewisser Weise hatte er damit Recht gehabt.
Aber es war kein Geld, das sie sich erhoffte, sondern Liebe. Er sollte stolz auf sie sein, ihr Anerkennung schenken. Es hatte Monate gedauert, bis sie sich endlich eingestanden hatte, dass Tom Weston völlig unfähig war, ihr irgendetwas zu geben, nicht einmal Zuneigung. Sie war ihm ganz einfach gleichgültig, er interessierte sich nicht für sie.
In den Jahren bis dahin war ihr Jason Manning mehr Vater gewesen, als es ihr leiblicher Vater jemals gewesen war. Danach hatte sie den Kontakt zu ihm endgültig abgebrochen. Es tat weh, dass der Mann, der sie immerhin gezeugt hatte, nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Aber nach einiger Zeit fand sie sich damit ab, und inzwischen war sie ihm fast dankbar für seine
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