Silbertod
Mr Gaufridus überzeugt war, ein Hauch würde ausreichen, um einen Scheintoten zu erwecken. Während er so von einer zur anderen Erfindung kam, erläuterte er auch seine Theorie, dass ein toter Körper leichter sein müsse als ein lebender, da die Seele ihn verlassen habe.
»Was mag eine Seele wiegen?«, fragte Pin.
»Eine sehr gute Frage, junger Mann«, sagte Mr Gaufridus. »Es ist natürlich nicht schwer, eine entsprechende Waage zu konstruieren. Aber einen Menschen exakt in dem Moment zu wiegen, in dem das Leben aus seinem Körper weicht – das ist das Problem.«
Inzwischen war Pin überzeugt, dass Mr Gaufridus genau der Richtige war, um ein solches Problem zu lösen. Am Ende des Vormittags musste er trotz seiner anfänglichen Zweifel Mr Gaufridus bewundern, weil er sich so entschlossen dafür einsetzte, dass niemand lebendig begraben werde. Das war wirklich ein hohes Ideal. Mr Gaufridus bot Pin, bestärkt durch dessen Wissbegier und kluge Fragen, die Stelle nur zu gern an.
»Was muss ich sonst noch tun, außer Leichen zu bewachen?«, fragte Pin.
Mr Gaufridus überlegte einen Augenblick. »Alles Mögliche, mein Freund, alles Mögliche.«
Und »alles Mögliche« war eine recht passende Beschreibung für Pins Pflichten. Er musste an Zehen ziehen, an Zungen reißen und in Fußsohlen stechen, nicht zu reden von der aufrichtigen Anteilnahme, die er den trauernden Angehörigen entgegenbringen musste, und dem Umlernen auf Sargtischlerei – die Präzision seiner Schwalbenschwanzverbindungen wurde von Mr Gaufridus schon bald geschätzt. Nachts, wenn eine Leiche zu bewachen war, lag Pin dösend auf der Bank in der Cella Moribundi und dachte über die Wendung seines Schicksals nach. Er konnte sicher sein, dass ihn hier niemand stören würde.
Im Lauf der Wochen verließ sich Mr Gaufridus mehr und mehr auf Pin, der sich bald um all die täglichen Geschäfte des Bestattungsunternehmens kümmerte, während Mr Gaufridus selbst seine komplizierten Apparate wartete oder neue konstruierte. Pin wiederum spürte Mr Gaufridus’ unterschiedliche Stimmungen allmählich schon an den kleinsten Veränderungen in dessen Mimik.
Als Pin jedoch an diesem Abend eintraf, räumte Mr Gaufridus bereits auf und machte sich dann gleich fertig, um zu gehen.
»Deine letzte Nacht mit der armen Sybil«, sagte er mit einem Nicken zur Tür der Cella Moribundi . »Morgen wird sie beerdigt.«
Pin wünschte ihm eine gute Nacht. Er lauschte, bis er die Tür zur Straße zuschlagen hörte, dann ging er durch den Raum in die Cella Moribundi . Die Anwesenheit einer Leiche störte ihn nicht weiter, für solche Empfindlichkeiten gab es indieser Stadt keinen Platz und die Vorteile einer festen Stelle übertrafen die Nachteile dieser Arbeit bei Weitem. War auch Mr Gaufridus’ Kellerraum nicht gerade der wärmste Ort – schließlich wurden Tote besser leicht gekühlt aufbewahrt –, so war es hier doch wärmer als draußen auf der Straße.
Den Leuten aus der Südstadt machte es nichts aus, die erforderlichen zweiundsiebzig Stunden bei ihren Toten zu sitzen. Sie machten aus diesen drei Tagen sogar eine Art Fest zu Ehren des Verstorbenen. Nordstädter dagegen sahen in diesem Brauch etwas Geschmackloses (ganz zu schweigen von der Unannehmlichkeit). Deshalb beschäftigten Bestattungsunternehmer normalerweise einen Gehilfen, in diesem Fall Pin, der anstelle der Angehörigen die Totenwache hielt. Natürlich war es in gewisser Weise auch ein Zeichen von Reichtum, dass eine Familie es sich leisten konnte, für diesen Dienst zusätzlich zu bezahlen. Gern berichteten sie ihren Nachbarn von den Extrakosten, die allein durch das An-der-Zunge-Reißen entstanden.
Zeigte der Tote auch am dritten Tag kein Lebenszeichen, durfte er ruhigen Gewissens beerdigt werden. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings auch in anderer Beziehung klar, dass die Seele den Körper ganz bestimmt verlassen hatte. Mit seiner empfindlichen Nase roch Pin meistens sofort, wenn der Verwesungsprozess einsetzte, und so passte es eigentlich, dass am Ende gerade er bei Mr Gaufridus gelandet war. Solch eine Gabe hatte also ihre Vorteile: Eine feine Nase bereicherte ein sonst stumpfsinniges Dasein. Trotzdem musste Pin, während er zu seinem leblosen Schützling ging, unwillkürlich darandenken, dass das Leben in einer Stadt wie Urbs Umida sehr viel weniger unangenehm wäre, wenn er das Geruchsvermögen eines gewöhnlichen Sterblichen hätte und nicht das eines Hundes.
Kapitel 5
Memento
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