Silbertod
Metallbeschlägen, Scharnieren, Fassungen, Namensschildern, Griffen und allem möglichen, nur vorstellbaren Sargzubehör.
Das alles erschien Pin völlig normal, und als Mr Gaufridus ihn nun in einen anderen Raum führte, erwartete er weitere Dinge dieser Art.
»Da sind wir«, erklärte Goddfrey stolz, während er die Tür öffnete. »Die Cella Moribundi . Warteraum der Toten.«
Pin blieb an der Tür stehen und blickte hinein. Der Begriff einer Cella Moribundi , eines Raums, in dem die Toten vor der Beerdigung aufgebahrt wurden, war ihm und auch allen anderen Bewohnern von Urbs Umida keineswegs fremd. Dass ein Toter vor dem Begräbnis drei Tage und drei Nächte aufgebahrt sein musste, ging auf eine lange Tradition unbekannten Ursprungs zurück. Es gab eine Redensart in Urbs Umida: »Wer zweifelt, soll drei Tage warten.« Pin dachte an den Tod seiner Mutter und an die langen Stunden, die er und sein Vater in der Pension neben ihrer Leiche zugebracht hatten. Sie hatten sich Mr Gaufridus’ Dienste nicht leisten können.
Der Raum war kleiner als die Werkstatt und sehr viel kühler. In der Mitte stand ein hoher Tisch (zurzeit leer), über dem ein merkwürdiger Mechanismus aus Schnüren und Zahnrädern, Hebeln und einer frisch geölten Kette angebracht war.Es gab hier zahlreiche Regale und eine Kommode mit schmalen Schubladen. Auf dieser Kommode lag eine Sammlung von Gerätschaften, die sich nur als Folterinstrumente bezeichnen ließen.
»Was sind denn das für komische Sachen?«, fragte Pin und sah sich staunend um. Diese Cella Moribundi war so ganz anders als alle, von denen er je gehört hatte.
Goddfrey runzelte die Stirn, das heißt, seine linke und seine rechte Augenbraue bewegten sich kaum sichtbar aufeinander zu.
»Diese ›komischen Sachen‹, wie du sie nennst, sind das Ergebnis meiner jahrelangen Arbeit für das Wohl der Lebenden und der Toten.«
Damit war Pin kaum klüger.
»Äh, wie soll …«
»Mein lieber Junge«, sagte Goddfrey durch zusammengebissene Zähne, »stell dir das Schlimmste vor, was du dir ausmalen kannst, und dann stell es dir zehn Mal schlimmer vor.«
Pin überlegte einen Augenblick. »In den Foedus fallen und Wasser schlucken«, sagte er mit einer gewissen Voraussicht.
»Hmm«, murmelte Mr Gaufridus, »das wäre allerdings schlimm, aber kannst du dir nichts Schlimmeres vorstellen?«
Pin konnte – es hing mit Barton Gumbroot zusammen. Er sagte es Mr Gaufridus, aber der fand es immer noch nicht schlimm genug. Schließlich beugte sich der Meister vor und gab in Form einer Frage selbst die Antwort.
»Kannst du dir etwas Schlimmeres vorstellen, Junge, als lebendig begraben zu werden?«
Pin lief ein Schauder über den Rücken und er schüttelte den Kopf. Mr Gaufridus hatte es anscheinend nicht bemerkt, denn er sprach unbeirrt weiter, umkreiste den Tisch, ruderte mit den Armen durch die Luft und zeigte ein Verhalten, das in keiner Weise mit seinem schläfrigen Gesichtsausdruck übereinstimmte.
»Stell dir vor, du erwachst aus harmlosem Schlaf und findest dich in vollständiger Dunkelheit wieder. Du willst nach der Kerze greifen, die du auf dem Tisch neben deinem Bett weißt, doch deine Hand stößt mitten in der Bewegung links und rechts gegen etwas Hartes. Du willst dich bewegen, aber du kannst dich nicht einmal umdrehen. Fassungslosigkeit überkommt dich, wenn du merkst, das dies alles kein Traum ist und dass du nicht in deinem Bett liegst, sondern in deinem Sarg .«
Pins Zähne klapperten. Die Temperatur in diesem Raum musste tatsächlich sehr viel niedriger sein. Mr Gaufridus machte jedoch noch keine Anstalten, zum Ende zu kommen. Keine Spur von Erregung war auf seinem Gesicht zu lesen, doch seine Augen schienen jetzt zu funkeln. Zweifellos bereitete es ihm ein eigenartiges Vergnügen, den Albtraum seiner Jugend noch einmal zu erleben.
»Was hast du für Todesqualen auszustehen, wenn du so daliegst und dich kaum rühren kannst! Du wirst versuchen, dich ruhig zu verhalten, um nicht unnötig Luft zu verbrauchen, schließlich hoffst du ja noch, dass dich jemand finden wird. Wenn aber dann Stunden vergehen und Tage, begreifst du, dass niemand dein Rufen, Schreien und Schluchzen hörenkann. Du weißt, dass es nur zwei Möglichkeiten für dich gibt: den Tod durch Sauerstoffmangel oder den Tod durch Verhungern. Du fasst dich an die Kehle, keuchst bei jedem Atemzug. Dann, wenn das Ende näher rückt, packt dich ein Hunger, der nie gestillt, und ein schrecklicher Durst, der nie
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