Silence
ewertet und in Schubladen sortiert wurden.
»Das sind Ermano und Giovanni Visconti. Sie gehen seit heute auf diese Schule«, stellte Mr. Snyder die Neuankömmlinge vor.
Er reichte Mrs. Walsh ein paar Unterlagen und watschelte schwerfällig aus dem Raum. Mr. Snyder ließ in mir immer das Bild eines zu dicken Pinguins aufflackern. Er war klein und hatte die körperlichen Attribute eines Hühnereis mit Armen und Beinen.
»Vielleicht mögt ihr kurz etwas über euch erzählen«, forderte Mrs. Walsh die Jungen auf und musterte die Neuen mit der gleichen Neugier wie jeder andere Anwesende im Raum. Sie machte es sich auf dem Rand ihres Schreibtisches bequem und wartete mit schief gelegtem Kopf.
»Ich bin Giovanni«, sagte der etwas Größere von beiden.
Sein glattes, glänzend schwarzes Haar war etwa kinnlang und verdeckte einen Teil seines Gesichtes, was ich wirklich traurig fand, denn soweit ich das sehen konnte, hatte er die dunkelsten Augen, die ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte.
»Das ist mein Bruder Ermano.«
Ermano, der mit dem lockigen Haar, nickte nur. Er machte ein verbissen ernstes Gesicht und schien gar nicht erfreut zu sein. Ganz anders Giovanni, der glücklich strahlend vor der Klasse stand. Im Vergleich zu seinem Bruder machte Ermano einen schüchternen Eindruck. Er war der Typ Junge, den man auf Anhieb als sympathisch und nett einstufen würde.
Giovanni wiederum gehörte zu der Sorte Jungen, die mit einem bloßen Zwinkern einem Mädchen den Kopf verdrehen konnten, ihren Eltern aber wahre Albträume bescherten. Wie ein Rockstar stand er vor dem Lehrerpult, grinste selbstsicher in die Klasse und wirkte dabei noch ziemlich heiß.
»Geboren wurden wir in Venedig, leben aber schon unsere ganze Kindheit in den USA. Mal hier, mal da«, führte Giovanni fort und warf mir einen Blick zu, der mir eine Gänsehaut über den Körper jagte, eine Mischung aus Arroganz und Begehren.
»Danke Giovanni. Ihr könnt euch hier vorn hinsetzen.« Mrs. Walsh wies den Zwillingen den Tisch vor Kate und mir.
Die Brüder folgten der Aufforderung. Und während sie sich setzten, wichen Giovannis Augen keine Sekunde von meinem Gesicht. Kurz blieb er vor mir stehen, strich seine Haare hinter die Ohren und gab wunderschöne, hohe Wangenknochen und Grübchen frei.
Kate stupste mir in den Oberarm und hüstelte. Dein Mund steht offen , dachte sie.
Ich klappte den Mund zu und spürte, wie mein Gesicht heiß wurde.
Giovanni grinste, zwinkerte mir zu und setzte sich auf den Stuhl vor mir.
»Wir waren gerade bei der Frührenaissance«, nahm die Lehrerin das Thema wieder auf und riss mich aus meiner Verblüffung. »Lisa, vielleicht kannst du kurz zusammenfassen, was wir bisher hatten.«
Ich schluckte heftig. Von dem, was Mrs. Walsh vorhin erklärt hatte, hatte ich nicht viel mitbekommen. Ich war damit beschäftigt gewesen, die Gedanken meiner Mitschüler zu belauschen. Seufzend holte ich Luft und stemmte mich schwerfällig von meinem Stuhl hoch. Bereit, mich der Schmach der Unwissenheit hinzugeben.
In meinem Kopf rauschten die Stimmen aller Anwesenden durcheinander; Michelles selbstverliebtes Gackern, Larissas Mitleid und Mrs. Walsh, die sich schon ihre Fr agen zurechtlegte. Mühsam schloss ich die Stimmen in meinem Kopf aus, um mich besser konzentrieren zu können. Ich hätte zugeben können, dass ich nicht aufgepasst hatte, aber das wagte ich nicht. Noch mehr negative Aufmerksamkeit konnte ich nicht gebrauchen. Ich stellte mir vor, dass alle außer Mrs. Walsh von einer Ziegelwand umschlossen waren.
Die virtuelle Mauer war eine Sache, die Kate mir beigebracht hatte. Sie hatte mit mir meditiert und mir g ezeigt, wie ich diese Mauer in meinem Kopf entstehen lassen konnte. Ich vermutete, dass sie sich so auch davor schützte, dass ich, wann immer ich wollte oder nicht, in ihren Kopf rutschte und dort las. Offenbar war es Kate gelungen, diese Methode zu perfektionieren, denn bei ihr funktionierte sie besser als bei mir. Ich hatte nur für wenige Minuten die Kraft, die Mauer aufrechtzuerhalten, bevor sie zusammenbrach und die Stimmen wieder auf mich einstürmten.
Zum ersten Mal, seit diese Gedankenleserei begonnen hatte, bemerkte ich jetzt, dass es außer Migräne und den Psychosen meiner Mitmenschen auch nützliche Nebenwirkungen gab. Noch während Mrs. Walsh eine Frage auf mich abfeuerte, konnte ich die Antwort darauf in ihrem Kopf lesen.
»Die Frührenaissance folgte auf die Gotik und nahm ihren Anfang wann und wo?«, wollte
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