Silence
unfreundlich zu ihm. »Lisa«, antwortete ich knapp und beschleunigte meinen Schritt etwas, um Giovanni hinter mir zu lassen.
Im Klassenraum angekommen, suchte ich mir einen Platz in der letzten Reihe. Ein Vorteil, den man hat, wenn alle anderen noch beim Mittag sind. Giovanni hätte die gleiche Auswahl gehabt. Vielleicht irgendwo auf der anderen Seite des Raumes, aber er zog den Sitzplatz neben mir vor.
»Was ist der Grund für die miese Laune?«
»Wie kommst du da drauf?«, fragte ich und starrte an die Tafel.
»Nur so ein Gefühl. Es liegt doch nicht an mir?«
»Migräne.« Ich tat beschäftigt und blätterte in meinem Buch. Es freute mich zwar irgendwie, dass Giovanni sich mit mir unterhielt – und vielleicht hatten die mürrischen Blicke der Beiden vorhin nichts mit mir zu tun gehabt -, aber ich war mir sicher, früher oder später würden sie doch erfahren, warum keiner auf der Schule etwas mit mir zu tun haben wollte. Warum sollte ich mir also erst die Mühe machen, mit jemandem Freun dschaft zu schließen, wenn der sich sowieso bald von mir abwenden würde.
Giovanni schwieg, stützte seinen Kopf auf einer Hand auf und beobachtete mich. Ich wagte es, ihn kurz von der Seite zu mustern. Sein Pony hing ihm wieder über die Augen. Trotzdem konnte ich sehen, dass diese fast schwarz waren. Die Iris war fast so dunkel wie die Pupille. Sein Gesicht war kantig, fast markant. Über seiner linken Augenbraue entdeckte ich eine winzige Narbe, die ein wenig blasser war als sein Teint, der an sich für einen Italiener schon blass war.
Er trug ein enges Baumwollshirt unter seiner Lederjacke, die er vorhin auch im Unterricht nicht ausgezogen hatte, und das wohl auch jetzt nicht vorhatte. Er hatte eine enge Jeans an, unter deren Stoff sich deutlich muskulöse Oberschenkel abzeichneten.
Giovanni hüstelte und erst jetzt bemerkte ich, meine kurze Musterung war deutlich länger als geplant ausgefallen. Verlegen wandte ich mich wieder meinem Buch zu und versteckte die Hitze in meinem Gesicht hinter me inen Haaren.
Nach und nach trudelten auch die anderen Mitschüler ein. Amüsiert stellte ich fest, dass an unseren Nachbartischen nur Mädchen Platz genommen hatten. Rechts von Giovanni saß Michelle. Kaum hatte sie sich häuslich eingerichtet, versuchte sie, Giovanni in ein Gespräch zu ziehen. Ich nahm das gleichgültig zur Kenntnis.
Mr. Tanner, ein großer breitschultriger Mann, der gut der Vater der Zwillinge hätte sein können, begrüßte uns mit einer kurzen Rede im neuen Schuljahr. Danach folgte die alljährliche Sicherheitsbelehrung zum Umgang mit gefährlichen Stoffen.
Ich schielte zu Michelle rüber, die sich übertrieben interessiert gab. Sie hatte sogar ihr Buch zwischen sich und Giovanni geschoben, so dass beide es nutzen konnten. Natürlich musste sie zu diesem Zweck näher an Giovanni heranrücken.
Ein Zettel wurde in mein Blickfeld geschoben. Als ich nicht gleich reagierte, hüstelte Giovanni leise.
Gespielt genervt griff ich nach dem Schreiben. Mir wäre es lieber gewesen, wenn du dein Buch mit mir geteilt hättest , stand darauf.
Schockiert schnappte ich nach Luft und hörte Giovanni leise kichern. Erst wollte ich nicht darauf antworten, doch dann überlegte ich es mir anders: Du müsstest gar nicht in ein Buch schauen, denn die Belehrung steht da nirgends drin . Ich schob den Zettel rüber und grinste frech.
Erwischt .
Mr. Tanner frischte unsere Erinnerungen auf, indem er quer durch die Klasse das Periodensystem abfragte. Als Giovanni an die Reihe kam, leierte er alle Elemente herunter, die noch nicht abgefragt wurden.
Angeber , dachte ich.
2. Kapitel
Nach dem Unterricht schleppte ich mich widerwillig in die Bibliothek. Mrs. Walsh hatte uns schon am ersten Schultag mit Hausaufgaben eingedeckt. Das Thema der nächsten Stunde würde Shakespeare sein. Unsere Aufgabe war es, eine Biografie über Shakespeare zu schreiben. Da ich das neue Schuljahr nicht gleich wieder mit einem Desaster beginnen wollte, nahm ich mir vor, diese Sache, so gut es mir möglich war, zu erledigen. Es konnte nicht schaden, sich ein paar Pluspunkte auf dem Walsh-Konto anzusammeln. Besonders, nachdem mein letztes Schuljahr mehr als mies gelaufen war.
Ich platzierte meinen Laptop auf dem noch einzigen freien Tisch in der Mitte der Bibliothek. Die Schulbibliothek war ein Ort, den ich nicht allzu oft besuchte – allenfalls zur Bücherausgabe am Ende der Sommerferien -, obwohl ich definitiv als Leseratte galt. Aber den
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