Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
Farbe noch nicht trocken war, denn verschmierte Reifenprofile waren bergab noch einige Meter weit zu sehen. Den Sinn, der hinter den Flugzeugen steckte, erkannte Herr Schweitzer erst ein paar Schritte weiter, als er an einem Mast, an dem wohl sonst eine Fahne wehte, eine ausgestopfte große Puppe baumeln sah. Sie war mit einem Strick um den Hals aufgehängt und trug eine Mütze mit dem Schriftzug Hessischer Ministerpräsident. Ein Schild, das in Brusthöhe angebracht war, vermittelte, warum der Landesfürst symbolisch gelyncht worden war. Bürger wehrt Euch – keine neue Startbahn, hieß es dort, und auf einem Bettlaken, das in das Geäst eines Apfelbaums gespannt war, wurde freundlich, wenn auch mit Ausrufezeichen, darauf hingewiesen, daß mit einer neuen Flugschneise der Schlaf aller Anwohner gar arg zu leiden habe. Simon Schweitzer, der vor nunmehr fast zweieinhalb Dekaden selbst aktiv am Widerstand gegen die damalige Startbahn West beteiligt war, schmunzelte ob so viel Naivität. Er erinnerte sich an einige seiner damaligen Kampfgefährten, von denen er die meisten heute aus den Augen verloren hatte. Nur von zweien wußte er mit Gewißheit, daß sie noch in Sachsenhausen wohnten. Pfarrer Guntram Hollerbusch war einer davon. Sein sakraler Wirkungskreis war die Fritz-Kissel-Siedlung, und von Zeit zu Zeit fanden seine karikativen Aktivitäten in den Regionalsparten diverser Tageszeitungen Beachtung. Herr Schweitzer erinnerte sich, ihn kurz vor Weihnachten im Postamt am Südbahnhof getroffen zu haben, wo man ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatte, denn viel hatte man nicht mehr gemeinsam. Der andere Hauptdarsteller auf der Sachsenhäuser Bühne des heldenhaften Widerstands war ein Klaus-Dieter Schwarzbach, der eine politische Laufbahn von ganz links nach ganz rechts absolviert hatte. Also klassisch. Mit einer energischen Handbewegung verscheuchte Herr Schweitzer den Gedanken an diese unangenehme Person. Es waren jetzt nur noch wenige Meter bis zu dem Gartenlokal am Fuß des Goetheturms, wo Simon Schweitzer mit niemand geringerem als sich selbst und der Natur verabredet war.
Nach dem Verzehr des zweiten Stückes Frankfurter Kranz ließ sich Herr Schweitzer die Rechnung bringen. Dann machte er sich auf den Heimweg, unter Einbeziehung eines Schlenkers über den Südfriedhof, der zwar mehr an Distanzmetern, aber auch ein Plus an Idylle beinhaltete. Außerdem zogen ihn Friedhöfe schon immer magisch an. Er wünschte sich manchmal, Grabsteine könnten sprechen und ihm die Biographie erzählen, die sich zwischen den zwei Daten der Inschrift verbarg. Als er vor einem Grab mit griechischen Schriftzeichen stand, fiel ihm der einzige Hellene ein, mit dem er näheren Kontakt hatte. Es war der Besitzer des Restaurants Beim Zeus und hieß mit Vornamen Theophilos. Der Nachname war so vielsilbig, daß er keinen Einlaß in Simon Schweitzers Gedächtnis gefunden hatte. Theophilos gehörte zur ersten Gastarbeitergeneration. Vom Ersparten hatte er seine Frau Roxane nachkommen lassen und Jahre später das Restaurant eröffnet, wo Simon Schweitzer und seine damaligen Mitstreiter in Sachen Startbahn West ihre Lagebesprechungen abgehalten hatten und mit immensem Blutvergießen die Regierung stürzten, wenn sie nicht gerade draußen im Hüttendorf den Widerstand vor Ort unterstützten. Komisch, dachte Simon Schweitzer, daß ich schon wieder in die Vergangenheit abdrifte. Er nahm sich vor, sich mal wieder Beim Zeus blicken zu lassen und zu testen, ob das Essen an Qualität eingebüßt hatte.
Das mit dem Mittagsschlaf wurde nichts mehr. Herr Schweitzer machte dafür das späte Aufstehen und die Vorfreude auf Babsi verantwortlich. Außerdem fand er es angemessen, sich einfach nur so geschlagene zwei Stunden auf dem Bett zu lümmeln. Aber genug ist genug, sagte er sich und stand auf. Das Telefon läutete. Simon Schweitzer nahm ab und ließ sich von Laura mitteilen, daß er mit dem Abendessen nicht auf sie warten brauche, es würde spät werden. Auch gut. Gemächlich schlenderte er in die Küche und suchte einen ihm genehmen Sender im Radio. Auf keinen Fall so einen neumodischen Kram wie HipHop oder Rap. Dann suchte er sich aus Kühlschrank und Obstkorb die Zutaten für einen Salat zusammen. Aus Olivenöl, kaltgepreßt, Balsamico-Essig sowie frischen und getrockneten Kräutern zauberte er eine Vinaigrette, die ihm das Wasser im Mund zusammen laufen ließ.
Eine Stunde später rülpste er laut und vernehmlich. Er war ja alleine.
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