Blutzeichen
1. Kapitel
Die Schlagzeile des Feuilletons lautete: »NEUAUFLAGE VON FÜNF THRILLERN DES MUTMASSLICHEN MÖRDERS ANDREW Z. THOMAS.«
Es reichte schon, seinen Namen zu lesen.
Karen Prescott ließ die New York Times sinken und ging zum Fenster.
Erste Sonnenstrahlen fielen durch die Jalousie ihres voll gestopften Büros – Anfragen und unverlangt eingeschickte Manuskripte stapelten sich in zwei Türmen neben ihrem Schreibtisch, unter dem Bücherschrank stand ein Karton mit Druckfahnen. Sie schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie der Nebel sich lichtete und das mikroskopische Kriechen des Verkehrs auf dem Broadway durch die tief hängende Wolke allmählich Gestalt annahm.
Karen lehnte sich gegen das Bücherregal, in dem viele der gebundenen Bücher standen, die sie bis zum Erscheinen betreut hatte. Sie fröstelte. Die Erwähnung von Andrews Namen brachte sie jedes Mal aus der Fassung.
Zwei Jahre hatte ihre romantische Affäre mit dem Krimiautor gedauert, und während seiner Arbeit an Blauer Mörder hatte sie sogar bei ihm in jenem Haus am See gewohnt, in dem viele seiner Opfer gefunden worden waren.
Sie hielt es für eine Charakterschwäche, dass sie nie eine dunkle Seite an Andy wahrgenommen hatte, abgesehen davon, dass er ihr manchmal etwas verschlossen vorgekommen war.
Mein Gott, ich hätte ihn beinah geheiratet!
Wieder sah sie Andy vor sich, bei dieser gut besuchten Lesung in der Bostoner Buchhandlung, wo sie sich das erste Mal getroffen hatten. Wie er im Bademantel in seinem Arbeitszimmer gesessen und sie ihm frischen Kaffee gebracht hatte (natürlich französisch geröstete Bohnen). Wie Andy sie in einem dünnwandigen Ruderboot mitten auf dem Norman-See geliebt hatte.
Sie dachte an seine tote Mutter.
Die exhumierten Leichen auf seinem Seegrundstück.
Sein Gesicht auf der Website des FBI.
Sie hatten das Schwarzweißfoto vom Schutzumschlag des neuesten Buches benutzt, auf dem ein nachdenklicher Andy in Sportjacke am Ende seines Bootsstegs sitzt.
In den letzten Jahren hatte sie aufgehört, von ihm als Andy zu denken. Er war jetzt Andrew Thomas und verkörperte all die schrecklichen Bilder, die in der Kadenz dieser vier Silben mitschwangen.
Es klopfte an der Tür.
Scott Boylin, Herausgeber der literarischen Reihe bei Ice Blink, stand in der Tür. Er trug seinen besten Sonntagsanzug. Karen vermutete, dass er sich für die Doubleday-Party in Schale geworfen hatte.
Er lächelte und winkte.
Gott, er sah heute fantastisch aus – sehr groß, sportlich, und sein dichtes schwarzes Haar wurde von würdevollen Silbersträhnen durchzogen.
Er gab ihr auf angenehme Art das Gefühl, klein zu sein. Aufgrund ihrer Körpergröße von knapp einem Meter zweiundachtzig wurde Karen nur von wenigen Männern überragt. Sie genoss es, zu Scott aufschauen zu müssen.
Vier Monate waren sie jetzt heimlich miteinander ausgegangen. Sie hatte ihm sogar den Schlüssel zu ihrem Apartment gegeben, in dem sie unzählige Sonntage Manuskripte lesend im Bett verbracht und kaffeefleckige Blätter über die Laken verstreut hatten.
Letzte Nacht allerdings hatte sie ihn in einer Bar in Soho in Begleitung einer der niedlichen Praktikantinnen gesehen, und er hatte nicht den Anschein erweckt, als ob er mit ihr über Bücher reden würde.
»Komm mit mir auf die Party«, sagte er. »Danach gehen wir ins Il Piazza. Reden darüber. Es ist nicht so, wie du – «
»Ich hab noch tonnenweise Lesestoff aufzuholen – «
»Sei doch nicht so, Karen, komm schon.«
»Diese Unterhaltung sollten wir nicht unbedingt hier führen, also…«
Er atmete heftig durch die Nase aus und schlug die Tür hinter sich zu.
Joe Mack stopfte sich gerade ein Gyros in sein pinkfarbenes Mondgesicht, als sich sein Handy mit der Melodie von »Staying Alive« meldete.
»Joe hier«, nuschelte er mit übervollem Mund.
»Hallo, tja, hm, ich habe hier ein interessantes Problem.«
»Wasch?«
»Tja, also ich bin in meinem Apartment, aber ich krieg von innen das Schloss nicht auf.«
Joe Mack schluckte einen Riesenbissen hinunter und verkündete: »Dann sind Sie eingeschlossen.«
»Genau.«
»Welches Apartment?« Er unternahm keinerlei Anstrengungen, die Verärgerung in seiner Stimme zu verbergen.
»Zweiundzwanzig elf.«
»Name?«
»Hm… Ich bin nicht der Mieter, sondern Karen Prescotts Freund. Sie ist – «
»Ja, verstehe. Müssen Sie bald wieder los?«
»Tja, ich will nicht – «
Joe Mack seufzte, klappte sein Handy zu und genoss den Rest seines
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