Sinuhe der Ägypter
in Theben, nichts. Die Priester sprachen Recht und fällten Urteile, so daß ein kühner Mann sogar gegen das Urteil der königlichen Gerichte im Tempel Berufung einlegen konnte, um sich reinzuwaschen. In den Händen der Priester lag die ganze höhere Berufsausbildung. Die Priester sagten das Steigen des Wassers und die Größe der bevorstehenden Ernte voraus und bestimmten also die Steuern im ganzen Land. Doch warum sollte ich mehr darüber berichten, da doch alles zum alten zurückgekehrt ist und sich nichts verändert hat?
Ich glaube nicht, daß dieser Bittgang meinem Vater leichtfiel. Er hatte sein ganzes Leben als Arzt im Armenviertel verbracht und war daher dem Tempel und dem Haus des Lebens entfremdet. Nun mußte er wie andere mittellose Väter vor dem Verwaltungsgebäude des Tempels anstehen und warten, um von einem hochwürdigen Priester gnädigst empfangen zu werden. Noch heute sehe ich sie vor mir, alle jene armen Väter, wie sie in ihren besten Gewändern im Tempelhof saßen, erfüllt von ehrgeizigen Träumen, ihren Söhnen möge ein besseres Leben als ihnen selbst zuteil werden. Sie hatten oft lange Reisen auf einem Flußboot hinter sich, wenn sie mit dem Proviantsack nach Theben kamen, und sie boten den Torwächtern und Schreibern ihre Besitztümer als Bestechung an, um mit einem goldbestickten, mit kostbaren ölen gesalbten Priester reden zu dürfen. Dieser aber rümpfte die Nase wegen ihres Geruches und redete sie in barschem Tonfall an. Doch Ammon brauchte immer neue Diener. Mit seinem wachsenden Reichtum und seiner zunehmenden Macht benötigte er eine immer größere Zahl von Schreibkundigen. Dennoch betrachtete es jeder Vater als eine göttliche Gnade, wenn er seinen Sohn im Tempel unterbringen konnte, obgleich er in Wirklichkeit mit seinem Sohn dem Tempel eine Spende brachte, die kostbarer ist als Gold.
Das Glück begünstigte meines Vaters Unternehmen, denn er hatte kaum bis zum Nachmittag gewartet, als sein alter Studienfreund Ptahor, der im Laufe der Zeit zum königlichen Schädelbohrer vorgerückt war, zufällig vorüberkam. Mein Vater erkühnte sich, ihn anzureden. Er versprach, uns in eigener hoher Person zu besuchen, um mich zu sehen.
An dem festgesetzten Tag sorgte mein Vater für eine Gans und den besten Wein. Kipa briet und schimpfte. Ein herrlicher Duft von Gänsefett entströmte unserer Küche, so daß Bettler und Blinde sich auf der Straße vor unserem Hause sammelten und mit Spielen und Singen ihren Anteil an dem Festmahl zu verdienen suchten, bis Kipa mürrisch in Fett getauchte Brotstücke unter sie verteilte und sie zum Gehen bewog. Thotmes und ich kehrten die Straße vor unserem Haus bis weit in die Stadt hinein, denn mein Vater hatte Thotmes aufgefordert, sich beim Erscheinen des Besuchers in der Nähe aufzuhalten, für den Fall, daß dieser auch mit Thotmes zu sprechen wünsche. Wir beide waren noch unreife Jungen, doch als mein Vater das Rauchfaß anzündete, es in die Veranda stellte, damit es Düfte verbreite, da war uns so feierlich zumute wie in einem Tempel. Ich hatte ein wachsames Auge auf die Kanne mit dem wohlriechenden Wasser und hielt die Fliegen von dem weißen Leinentuch ab, das Kipa eigentlich für ihr Begräbnis aufbewahrte, das aber nun Ptahor als Handtuch dienen sollte.
Wir mußten lange warten. Die Sonne sank, und die Luft wurde kühler. Der Weihrauch in der Veranda brannte zu Ende, und die Gans brodelte wehmütig im Bratofen. Ich verspürte immer quälenderen Hunger, während das Gesicht meiner Mutter Kipa länger und starrer wurde. Mein Vater sagte nichts, wollte aber bei Anbruch der Dämmerung die Lampen nicht mehr anzünden. Wir saßen alle auf den Schemeln der Veranda und vermieden es, uns gegenseitig anzusehen. In jenen Augenblicken verstand ich, welch große Sorgen und Enttäuschungen die Reichen und Vornehmen in ihrer Gedankenlosigkeit den Armen und Geringen bereiten können.
Doch endlich tauchten draußen brennende Fackeln auf. Mein Vater erhob sich rasch und eilte in die Küche nach einem Stück Kohle, um die beiden Öllampen anzuzünden. Zitternd hob ich das Wassergefäß auf meinen Schoß, und Thotmes atmete schwer an meiner Seite.
Der königliche Schädelbohrer Ptahor kam in einer schlichten, von zwei Negersklaven getragenen Sänfte. Vor der Sänfte ging ein offenbar betrunkener, feister Diener und schwenkte eine Fackel. Ächzend und stöhnend, unter lauten, freudigen Begrüßungsworten entstieg Ptahor der Sänfte, während mein Vater sich
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