Sinuhe der Ägypter
Proviantrechnungen der Soldaten eintragen würden. Solche Schulen für kleine Kinder gab es zu Dutzenden und Hunderten in der großen Weltstadt Theben. Der Unterricht war billig, denn die Schüler brauchten nur für den Unterhalt des alten Oneh zu sorgen. Der Sohn des Kohlenhändlers füllte an den Winterabenden sein Kohlenbecken, der Sohn des Webers versah ihn mit Gewändern, der Sohn des Getreidehändlers versorgte ihn mit Mehl, und mein Vater pflegte seine vielen Altersgebrechen und verabreichte ihm in Wein einzunehmende, schmerzstillende Pflanzensäfte.
Diese Abhängigkeit machte Oneh zu einem sanften Lehrer. Wenn ein Junge über seiner Schreibtafel einschlief, wurde er nicht an den Haaren gezupft, sondern mußte nur am nächsten Tag irgendeinen Leckerbissen für den Alten erobern. Bisweilen brachte des Getreidehändlers Sohn einen Krug Bier von zu Hause mit, und an jenen Tagen lauschten wir aufmerksam, denn der alte Oneh wurde angeregt und begann, seltsame Abenteuer aus dem Jenseits zu erzählen und Märchen von der himmlischen Mut, der Erbauerin der Welt, von Ptah und den übrigen ihm nahestehenden Göttern. Wir kicherten und glaubten, ihn dazu verführt zu haben, die lästigen Aufgaben und die langweiligen Schriftzeichen für den ganzen Tag zu vergessen. Erst viel später lernte ich verstehen, daß der alte Oneh ein weiserer und verständnisvollerer Lehrer war, als ich glaubte. Mit den Sagen, die seine kindlich-fromme Phantasie belebten, verfolgte er einen bestimmten Zweck. Er lehrte uns das Sittengesetz des alten Ägypten. Keine böse Tat blieb ungestraft. Unbarmherzig wurde jedes Menschenherz eines Tages vor dem erhabenen Thron des Osiris gewogen. Der Mensch, dessen böse Taten von der Waage des Schakalhäuptigen verraten wurden, ward dem »Verschlinger« vorgeworfen, und dieser war ein Krokodil und ein Flußpferd in einer Gestalt, doch schrecklicher als beide.
Er erzählte auch von dem mürrischen »Rückwärtsblicker«, dem unheimlichen Fährmann des Totenreiches, ohne dessen Hilfe keiner die Gefilde der Seligen erreichte. Beim Rudern blickte er stets zurück, nicht vorwärts in der Fahrtrichtung des Bootes wie die irdischen Ruderer auf dem Nil. Oneh ließ uns die Formeln auswendig hersagen, mit denen der »Rückwärtsblicker« bestochen und beschwichtigt werden sollte. Er ließ sie uns in Schriftzeichen übertragen und später aus dem Gedächtnis aufschreiben. Unsere Fehler verbesserte er unter sanften Ermahnungen. Wir sollten verstehen lernen, daß selbst der kleinste Fehler ein glückliches Leben im Jenseits vereiteln könne. Wenn wir dem »Rückwärtsblicker« einen Brief mit einem einzigen Fehler überreichten, würden wir unerbittlich gezwungen, in Zeit und Ewigkeit als Schatten am Ufer des düsteren, schwarzen Wassers zu wandeln, oder – was noch schlimmer war – wir würden in den unheimlichen Klüften des Totenreiches landen.
Ich besuchte die Schule Onehs mehrere Jahre. Mein liebster Schulkamerad war der um einige Jahre ältere Thotmes, dessen Vater Anführer einer Streitwagengruppe war. Thotmes war von Kindheit an gewohnt, mit Pferden umzugehen und sich an Ringkämpfen zu beteiligen. Sein Vater, in dessen Peitsche Kupferdrähte eingeflochten waren, hoffte, daß sein Sohn einst ein großer Feldherr werde; daher mußte er schreiben lernen. Doch sein ruhmreicher Name Thotmes bedeutete kein Omen, wie sein Vater es hoffte. Denn seit Thotmes zur Schule ging, kümmerte er sich nicht mehr um das Speerwerfen oder um Streitwagenübungen. Die Schriftzeichen lernte er rasch und leicht, und während die anderen Schüler sich verzweifelt abmühten, begann er Bilder auf seine Schreibtafel zu zeichnen. Er zeichnete Streitwagen, sich bäumende Pferde und ringende Soldaten. Er brachte Lehm mit in die Schule, und während, angeregt durch das Bier, Onehs Mund uns Märchen erzählte, formte er ein ganz verzerrtes Bildnis von dem »Verschlinger«, der mit weitaufgesperrtem Rachen einen kleinen, kahlen Greis bedrohte, an dessen krummen Rücken und rundem Bäuchlein Oneh leicht zu erkennen war. Doch Oneh nahm es ihm nicht übel. Niemand konnte Thotmes zürnen. Er besaß das breite Gesicht und die kurzen, dicken Beine der Männer aus dem Volke, aber in seinen Augen saß der Schalk, und seine geschickten Hände formten aus dem Lehm Tiere und Vögel, die uns sehr ergötzten. Anfangs warb ich um seine Freundschaft, weil er so soldatisch war, doch unsere Freundschaft blieb bestehen, selbst dann, als er auch nicht mehr
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