Sirenenlied
überrumpelt zurück. »Warum fragst du mich das?«
Ein wenig verlegen nestelte Eileen an ihren Locken, die unter der Kapuze hervorlinsten. »Es ist nur … du wirkst manchmal ein bisschen verloren. Als wärst du mit deinen Gedanken ganz woanders. Vielleicht liegt es ja bloß an den aufziehenden Frühjahrsstürmen. Es heißt ja nicht umsonst, dass sie den Männern von Cragganmore Island den Kopf verdrehen.«
»Spielst du jetzt auf dieses absurde Sirenenlied an? Diese Wasserwesen, die mit dem Frühling entlang der Insel ziehen und die Männer mit ihrem Gesang ins Meer locken?«, fragte Josh schärfer als beabsichtigt. Eigentlich entsprach es nicht seiner Art, jemanden anzufahren, aber dieses Thema
zerrte an seinen Nerven. Mehr als er jemanden wie Eileen einzugestehen bereit war.
Eileen wich erschrocken zurück, setzte dann aber eine trotzige Miene auf. »Ich finde nicht, dass an Legenden etwas Absurdes dran ist. Es leuchtet mir absolut ein, dass so eine Naturgewalt wie das Meer Einfluss auf den Menschen hat. Ähnlich dem ab- und zunehmenden Mond. Um diese Jahreszeit spielt das Meer verrückt, das kannst du nicht leugnen. Als ob es sich einmal komplett umdrehen muss, so wild ist es. Egal, wo man auf der Insel ist, man hört immer sein Rauschen. Manchmal denke ich, es will einen anlocken und dann verschlingen.«
»Das erklärt ja zumindest, warum es laut Mythos nur auf die Männer so eine vernichtende Anziehungskraft ausübt: Locken plus anschließendem Verschlingen ist eindeutig Frauensache. Oder, um bei der Sage zu bleiben, Sirenenjob. Jetzt begreife ich auch endlich, was es mit dem wogenden Meeresbusen auf sich hat.« Josh zeichnete mit den Händen ziemlich exakt nach, was er sich darunter vorstellte. »Aber dafür zu ertrinken, wäre reichlich albern, da es doch auch auf der Insel ausreichend Wogendes gibt.«
Eileen stemmte ihre Hände in die Hüften. »Mensch, wer hätte gedacht, dass du über so viel Grips verfügst? Da behaupte noch einmal jemand, bei Josh Galbraith reicht’s nur für Gelegenheitsjobs aus.« Mit diesen Worten machte Eileen auf der Stelle kehrt und verschwand im Haus, ohne auch nur einmal über ihre Schulter zurückzublicken.
Josh biss sich kräftig auf die Zunge, um ihr nicht noch hinterherzurufen, dass es für die Männer von Cragganmore keinen Grund gebe, sich in die kühlen Arme einer Sirene zu stürzen, solange die Frauen der Insel so nette Sachen zu sagen hatten. Ihm - für seinen Teil - würden jetzt jedenfalls
die Ohren klingen. Aber dann überkam ihn sofort ein schlechtes Gewissen. Es gab keine Entschuldigung dafür, dass er Eileen beleidigt hatte, nur weil sie ihm mit dem Sirenenlied gekommen war. Eigentlich war es kein Wunder, schließlich stand es jedes Jahr erneut auf der Agenda. Allerdings weder als Touristensensation noch als lockeres Pubgespräch. Die Menschen auf Cragganmore Island nahmen das Sirenenlied ernst. Genau wie Josh.
3
Nächtlicher Besuch
Als seine Mutter Enid vor drei Jahren einen Job bei einer Reederei auf dem Festland angenommen hatte, hatte Josh beschlossen, ihre gemeinsame Wohnung im Dorf aufzugeben. So bequem es auch sein mochte, dort zu wohnen, er zog sein zugiges Steinhaus inmitten der Einsamkeit tausendmal vor.
Es handelte sich um ein Black House, das er für einen kleinen Betrag von Logan gemietet hatte. Dessen Vater hatte es zuletzt bewohnt und noch Landwirtschaft betrieben, was in dieser rauen Gegend alles andere als ein Kinderspiel war. Für Josh war es eine befriedigende Aufgabe gewesen, die doppelten, von Wetter und Zeit mitgenommenen Mauern auszubessern und mit weißer Farbe zu tünchen, genau wie das Aufarbeiten des traditionellen Torfdaches. So ein Black House strahlte in seinen Augen eine feste Verankerung mit der Insel aus. Logan dagegen hatte sein Geburtshaus, das streng nach dem Rauch des Torffeuers roch, ohne Zögern gegen die modern
isolierte Anliegerwohnung seines Bootshauses eingetauscht.
Joshs Zuhause lag auf einer Wiese, die sich in Richtung Landesinneres sanft aufschwang und in einem Hügel gipfelte, der auf der Meeresseite urplötzlich als Steilklippe abbrach. Dort schlugen die Wellen mit ungebrochener Kraft gegen den Felsen, während das Wasser auf Joshs Seite verhältnismäßig sanft an die Küste rollte. Wenn er morgens mit der Teetasse in der Hand an sein winziges Küchenfenster trat, sah er das Grün von Moos und Gras, durchzogen vom Grau der Felsen und dann nur noch Blau - Meer und Himmel und Wolkenspiel. Gelegentlich
Weitere Kostenlose Bücher