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So still die Nacht

So still die Nacht

Titel: So still die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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Kasten unter seiner Pritsche aufbewahrte und die nur Tage zuvor mit ihren ursprünglichen Aufwickelstäben aus Elfenbein wiedervereint worden waren.
    Unglücklicherweise konnte Mina nicht einschätzen, ob die gefährlichen Männer real oder ihre »Geheimgesellschaft« nur die Schöpfung eines alternden und verfallenden Geists waren.
    Der Professor trat an sie heran, den Lauf der Waffe auf den mit einer Wolldecke ausgelegten Boden gerichtet. »Versprich mir, dass du sie ständig bei dir tragen wirst.«
    »Vater.« Sie stand vom Stuhl auf, versteckte die Hände hinter dem Rücken und weigerte sich, die Waffe anzunehmen.
    »Nimm sie.«
    »Nein.«
    »Tu, was ich sage.« Eine ungeduldige Schärfe stahl sich in seine Stimme.
    »Sag mir, was geschehen ist«, verlangte sie. »Hast du sie gesehen? Sind sie hier im Lager? Kannst du mir sagen, wer sie sind?«
    Mit fest aufeinandergepressten Lippen und bebenden Nasenflügeln steckte er die Waffe in ihren breiten Gürtel. Dann holte er tief Atem, legte seine eiskalten, nackten Hände um ihr Gesicht und drückte ihr einen inbrünstigen Kuss auf die Wange.
    Danach wich er zurück und flüsterte: »Du musst nach Kalkutta zurückkehren.«
    Ihre Bestürzung wuchs. »Und wohin gehst du?«
    Er packte ihre Schultern, vermied es jedoch, ihr in die Augen zu sehen. »Wir müssen uns trennen. Das ist die einzige Möglichkeit.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Er wandte sich von ihr ab. »Du wirst nach England zurückkehren. Nach London. Dein Onkel wird dich nicht abweisen. Du musst dort allen sagen, ich sei tot.«
    »Tot?« Vor Schreck blieb ihr der Mund offen stehen.
    »Ja, dass ich hier auf dem Berg in Nepal gestorben sei.«
    Seine Worte hallten in ihren Ohren wider, und doch konnte sie immer noch nicht glauben, dass er sie tatsächlich ausgesprochen hatte.
    »Du redest Unsinn, Vater«, flüsterte sie. »Das ist Wahnsinn.«
    Er hob einen Rucksack vom Fußende der Pritsche hoch und sprach über seine Schulter weiter. »Dieser arme Sherpa, Liebes … sein Tod war kein Unfall. Seine Verletzungen waren so grauenvoll, dass sie nicht von dem Sturz herrühren konnten. Sie haben ihn getötet, als Warnung an mich. Ich will nicht, dass sie mit dir das Gleiche machen.« Er atmete bebend aus. »Willomina, lass mich neben deiner lieben Mutter bestatten. Sorg dafür, dass es alle erfahren.« Er zog einen zerknitterten Schnipsel Papier aus der Tasche. »Dies ist der Name eines Mannes in Kalkutta, der dir die notwendigen Papiere geben wird und … alles andere.«
    Sie starrte auf den Zettel, als sei er eine riesige, gefährliche Spinne. Ihr Vater langte an ihr vorbei und legte den Zettel auf den Tisch.
    »Dies muss unser Lebewohl sein.«
    Sagte er ihr die Wahrheit? Hatten diese Männer, die sie nie zuvor gesehen hatte, den Sherpa ermordet, oder hatte ihr Vater den Verstand verloren? Aber das lief sowieso aufs Gleiche hinaus.
    »Ich werde es nicht tun«, flüsterte sie. »Ich werde dich nicht verlassen, und du wirst mich nicht verlassen. Wir bleiben zusammen, was auch geschieht.«
    Ihr Vater erstarrte.
    »Vater«, flehte sie. »Sieh mich an.«
    Mit steifen Schultern griff er nach seinen zusammengelegten Wollsachen und stopfte sie in den Rucksack. Dann kniete er sich hin und nahm die schmale Kiste mit den Schriftrollen. Auch die verstaute er im Rucksack.
    »Das ist es dann also?« Tränen brannten ihr in den Augen. »Du wirst mir nicht mehr sagen?« Sie wich zum Zelteingang zurück. »Du lässt mir keine andere Wahl. Ich werde Leutnant Maskelyne verständigen.«
    Ihr Vater packte ein in Leder gebundenes Tagebuch und eine runde Dose mit Zahnpulver ein.
    Mina nahm ihren Mantel von dem hölzernen Kleiderständer und verließ das Zelt. Eisige Luft schlug ihr entgegen. Eine Gruppe von ernst dreinschauenden Bengalis blickte auf; die Männer hockten um eine Feuergrube herum, aus der Flammen schlugen, und wärmten sich die Hände. Über dem Lager ragte im purpurnen Zwielicht ein zackiger Gebirgszug empor und verlor sich in einer dichten Wolkendecke. Mina verknotete den Gürtel an ihrer Taille und vergrub ihre Arme in den Mantelärmeln. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie sich durch das Labyrinth der Leinenzelte einen Weg bahnte. Es hatte wieder zu schneien begonnen.
    Plötzlich erschien im Schneetreiben vor ihr eine breite Brust. Große Hände schlossen sich um ihre Arme. Unter einer dunklen Fellmütze spähten Leutnant Maskelynes Augen aus seinem scharfkantigen Gesicht auf sie herab.
    »Mina,

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