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So still die Nacht

So still die Nacht

Titel: So still die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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sehr. Im Geiste forderte sie ihn beinahe dazu heraus, nach den Schriftrollen zu fragen, damit sie einen guten Grund hatte, ihm noch weiter aus dem Weg zu gehen, aber er tat es nicht.
    »Ich bin mir sicher, es gibt bestimmt noch andere Dinge, mit denen Sie Ihre Zeit verbringen«, sagte er.
    »Ja, ich beschäftige mich mit den Papieren meines Vaters. Mit seinen Notizen.« Jetzt forderte sie ihn doch heraus, und das ziemlich verwegen. »Sie enthalten nichts von Bedeutung, aber ich denke, sie werden einige hübsche akademische Abhandlungen abgeben. Ich werde sie bei der Königlichen Geografischen Gesellschaft einreichen, und wir werden sehen, ob sie sie veröffentlichen.«
    »Unter dem Namen Ihres Vaters?«
    »Ja«, erwiderte sie, dann betonte sie: »Natürlich posthum.«
    »Sie haben immer die Artikel Ihres Vaters geschrieben, nicht wahr?«, fragte er.
    Sie zuckte die Achseln. »Mehr oder weniger. Früher hat meine Mutter das für ihn erledigt. Er war immer sehr gut darin, Übersetzungen zu machen, Beobachtungen und Landvermessungen anzustellen, aber aus irgendeinem Grund fiel es ihm nie leicht, seine Gedanken zu ordnen und zu Papier zu bringen.«
    »Ich habe alle Veröffentlichungen Ihres Vaters gelesen, müssen Sie wissen.« Er neigte den Kopf, und der Schatten seines Zylinders fiel über ihre Röcke. »Sie sind außerordentlich gut geschrieben, und ich bin mir sicher, dass Sie einiges davon über Landexpeditionen und Bergbesteigungen aufgezeichnet haben. Sie sollten sie unter Ihrem eigenen Namen veröffentlichen, zumindest zusammen mit seinem.«
    »Vielen Dank.« Seine Bewunderung und Ermutigung waren wie eine körperliche Liebkosung.
    »Vielleicht könnten Sie« – er zuckte elegant die Achseln – »mir irgendwann einmal helfen, einen Sinn in meine eigenen Expeditionspapiere zu bringen.«
    »Vielleicht.«
    Sein Blick fiel auf ihre Lippen. »Ich vermute, dass wir viele gemeinsame Interessen haben.«
    Sie war beinahe sicher, dass seine Worte eine verborgene Bedeutung enthielten und vielleicht sogar eine Einladung – eine, die nichts mit Aufzeichnungen oder Papieren oder fremdländischen Expeditionen zu tun hatte. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass sie eine größere Vertrautheit zwischen ihnen herbeisehnte. Sie wollte ihn nach seiner Familie fragen, nach seinem Interesse an Sprachen und der Altertumskunde. So sehr sie sich ein Heim und Familie und Dauerhaftigkeit wünschte – es schien ihr jetzt beinahe so, dass auch ein Verlangen nach Abenteuer in ihrem Blut lag.
    Sie umrundeten eine dichte Baumgruppe. Dahinter schwebte zu Minas Überraschung ein Ballon aus senkrechten, abwechselnd scharlachroten und goldenen Seidenbahnen. Ein schmaler Korb hing darunter, ungefähr dreißig Zentimeter über dem Boden.
    »Wie aufregend. Jemand hat einen Ballon hergebracht«, sagte sie.
    Ohne seinen beunruhigenden Blick von ihr abzuwenden oder dem Ballon auch nur die geringste Beachtung zu schenken, fragte er: »Sind Sie jemals … mit einem gefahren?«
    »Nein, aber ich habe es mir immer gewünscht.«
    Das Fliegen hatte sie stets fasziniert. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie erregend es wäre, aus der Vogelperspektive auf die Erde hinabzuschauen.
    Als Lord Alexander ihr eine Hand ins Kreuz legte und sie zu dem Ballon führte, versteifte sie sich. »Wollen wir ihn uns dann einmal ansehen?«
    So energisch. So selbstbewusst. So freundlich.
    Nach einigen Schritten – viel zu wenigen – ließ er seine Hand sinken und ging vor, um mit der Person zu sprechen, die anscheinend das Kommando hatte. Es war ein munterer kleiner Herr mit distinguiertem grauen Haar, einer Augenklappe und einem Schnurrbart. Er verzog die Lippen und nickte enthusiastisch.
    Lord Alexander drehte sich zu ihr um, sein fester Blick einladend, und winkte sie heran. Mina trat zu ihm.
    Der silberhaarige Herr verkündete: »Der Preis beträgt zwanzig Pfund.«
    Lord Alexander musterte den Mann mit zusammengekniffenen Augen. »Natürlich. Es muss einen Preis geben, nicht wahr?«
    Dann zog er seine Börse heraus und entnahm ihr die nötigen Pfundnoten.
    Minas Herz tat einen Satz. »Sie werden damit fahren?«
    »Nein, Sie und ich werden damit fahren.«
    »Oh.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich weiß nicht … ich sollte mich mit der Familie im Clubhaus treffen.«
    »Es ist Viertel vor«, konterte er. »Ich bin mir sicher, das Konzert wird nicht vor elf enden.«
    Sie sah sich um, vielleicht auf der Suche nach Rettung. Ihre Wangen röteten sich. Zwei

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