So still die Nacht
Er gestand sich das nicht gern ein. Es führte ihm vor Augen, wie wenig Zeit ihm blieb, um sich selbst zu retten.
Im Schatten des Clubhauses von Hurlingham hielt Mark inne. Die hohen Säulen der Gebäudefront boten einen prächtigen Salut für die Schiffe, die die Themse hinunterfuhren – der Besitz lag direkt am Nordufer des Flusses. So wie er seine gegenwärtige »Glückssträhne« einschätzte, würde er wahrscheinlich Lucinda, Astrid und Evangeline begegnen oder – Gott, bitte nein – allen dreien gleichzeitig und von ihnen erfahren, dass Mina zu Hause geblieben war. Aber er wollte auch nicht vorschnell aufgeben. Was würde eine junge Frau in Trauer hier am ehesten unternehmen? Er vermutete, dass sie einen Spaziergang auf dem weitläufigen Gelände machen würde. Vielleicht konnte er sie doch allein antreffen.
Seine eigene liebe Mutter hatte das Buch über strategische Verführung geschrieben, und er nahm an, der Apfel war nicht weit vom Stamm gefallen.
Mark schlenderte vom Clubhaus langsam zum Fluss hinunter. Er streckte seine geistigen Fühler in alle Richtungen aus, um ihre Spur aufzunehmen. Das dramatische Crescendo eines Streichquartetts drang aus einem der offenen Fenster und fügte seiner Mission eine beinahe komische Note hinzu. Erst letztes Jahr war er unter dem Applaus der Zuschauer als bester Reiter über das in einiger Entfernung liegende Polofeld gedonnert. Der Club veranstaltete außerdem Wettbewerbe in Rasentennis, Kricket und – nur für Herren – Taubenschießen. Wahrscheinlich würde Miss Limpett keine dieser Sportarten ausüben. Er folgte einem Weg, der in ein kleines Wäldchen und zu einer winzigen Lichtung führte. Ah, da. Nah … ja, sie war nah.
Sein Blick fiel allerdings auf einen Mann mit Strohhut und weißem Anzug. Der Mann war ihm wohlvertraut, aber was hatte er hier in Hurlingham zu suchen? Mark hatte sich oft gefragt, ob Leeson wegen seiner Fähigkeit, sich so schnell zu bewegen, vielleicht doch zum Teil ein Geist war.
Auf der Lichtung war eine rechteckige Plane ausgelegt, auf der ein großer Korb lag. Zahlreiche Leinen verbanden den Korb mit einem bereits halb gefüllten Ballon. Zischend strömte weiteres Gas aus einer großen Metallflasche in die Seidenhülle. Mr. Leeson rief vier hektischen Clubangestellten Befehle zu, die daraufhin Pflöcke in den Boden trieben, den Korb daran festmachten und dann halfen, den sich füllenden Ballon auseinanderzuziehen.
Mark trat von hinten an Leeson heran und knurrte: »Was machen Sie hier?«
Leeson warf ihm einen Seitenblick zu. »Das ist doch wohl offensichtlich, Sir. Ich bringe meinen Ballon in die Luft. Meinen großen … spektakulären Ballon. Keine Sorge. Ich werde mich nicht in Ihre Pläne einmischen. Mir ist bewusst, dass Sie mich und meine törichten Altmännerideen nicht brauchen. Also werde ich einfach hier sein und mich mit meiner eigenen berauschenden Ablenkung amüsieren. Vielleicht kann ich eine hübsche, abenteuerlustige Dame überreden, mit mir im Ballon zu fahren. Ach übrigens, die Ihre befindet sich gleich hinter dieser Baumgruppe.«
Mark kniff die Augen zusammen und wandte sich ab.
Mina starrte in ihr Buch, sah aber nur das Bild dieser weißen Theatermaske vor Augen. Sie blinzelte das Trugbild weg und hob den Blick. Paare schlenderten Arm in Arm über den Rasen, Kinder jagten einander um die Bäume, und Kinderfrauen schoben chromglänzende Kinderwagen vor sich her. Alles um sie herum wirkte so normal. Alles war normal. An diesem Morgen war sie auf der Bond Street das zufällige Opfer eines Verbrechens geworden. Wenn ihr Angreifer ihr hätte etwas zuleide tun wollen, hätte er das getan, aber er hatte nur eine Strähne von ihrem Haar abgeschnitten. Den Vermutungen des Wachtmeisters zufolge litt die Person wahrscheinlich an einem Haar-Fetischismus. Solche Verbrechen kamen immer wieder einmal vor.
Warum also beharrte ihr Verstand darauf, ihr eine Welt von Dunkelheit und Gefahr und bevorstehendem Verhängnis zu zeichnen? Und darauf, nebelhafte Verbindungen herzustellen, wo keine sein sollten?
Lord Trafford war im Club unerwartet zu ihnen gestoßen. Bedauerlicherweise hatte er seine Eintrittskarte zu dem Konzert vergessen; daher hatte Mina darauf bestanden, ihm ihre zu überlassen. Verständlicherweise war er entsetzt gewesen über die Nachricht von dem Überfall auf sie, und obwohl er nichts als Sorge äußerte, wurde sie das Gefühl nicht los, als würde sie in seinen Augen langsam zu einem Fräulein, das
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