Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Mama, Papa und der kleine Thomas, der vielleicht zwei oder drei ist, in der Küche beim Frühstück. Plötzlich steht Mama auf und dreht sich zum Spülbecken um, und dann – ja, dann schwebt Papa plötzlich unter der Decke.
Was glaubst du, sagt Thomas dazu? Vielleicht zeigt er auf seinen Papa und sagt: »Papa fliegt!«
Sicher wäre Thomas erstaunt, aber das ist er ja sowieso. Papa macht so viele seltsame Dinge, dass ein kleiner Flug über den Frühstückstisch in seinen Augen keine große Rolle mehr spielt. Jeden Tag rasiert er sich mit einer witzigen Maschine, manchmal klettert er aufs Dach und dreht an der Fernsehantenne herum – oder er steckt den Kopf in den Automotor und kommt rabenschwarz wieder zum Vorschein.
Und dann kommt Mama an die Reihe. Sie hat gehört, was Thomas gesagt hat, und dreht sich resolut um. Wie, glaubst du, wird sie auf den Anblick des freischwebenden Papas über dem Küchentisch reagieren?
Ihr fällt sofort das Marmeladenglas aus der Hand und sie heult vor Entsetzen auf. Vielleicht muss sie zum Arzt, nachdem Papa wieder auf seinem Stuhl sitzt. (Er hätte schon längst bessere Tischmanieren lernen sollen.)
Warum reagieren Thomas und Mama so unterschiedlich, was meinst du?
Es ist eine Frage der Gewöhnung . (Notier dir das!) Mama hat gelernt, dass Menschen nicht fliegen können. Thomas nicht. Er ist noch immer unsicher, was auf dieser Welt möglich ist und was nicht.
Aber was ist mit der Welt selber, Sofie? Meinst du, die ist möglich? Auch sie schwebt doch frei im Raum.
Das Traurige ist, dass wir uns im Heranwachsen nicht nur an die Gesetze der Schwerkraft gewöhnen. Wir gewöhnen uns gleichzeitig an die Welt selber.
Anscheinend verlieren wir im Laufe unserer Kindheit die Fähigkeit, uns über die Welt zu wundern. Aber dadurch verlieren wir etwas Wesentliches – etwas, das die Philosophen wieder zum Leben erwecken wollen. Denn irgendwo in uns sagt uns etwas, dass das Leben ein großes Rätsel ist. Das haben wir erlebt, lange bevor wir gelernt haben, es zu denken.
Ich präzisiere: Obwohl die philosophischen Fragen alle Menschen angehen, werden nicht alle Menschen Philosophen. Aus unterschiedlichen Gründen werden die meisten vom Alltag dermaßen eingefangen, dass die Verwunderung über das Leben weit zurückgedrängt wird. (Sie kriechen tief ins Kaninchenfell, machen es sich dort gemütlich und bleiben für den Rest des Lebens da unten.)
Für Kinder ist die Welt – und alles, was es darauf gibt – etwas Neues , etwas, das Erstaunen hervorruft. Alle Erwachsenen sehen das nicht so. Die meisten Erwachsenen erleben die Welt als etwas ganz Normales.
Und genau da bilden die Philosophen eine ehrenwerte Ausnahme. Ein Philosoph hat sich nie richtig an diese Welt gewöhnen können. Für einen Philosophen oder eine Philosophin ist die Welt noch immer unbegreiflich, ja, sogar rätselhaft und geheimnisvoll. Philosophen und kleine Kinder haben also eine wichtige gemeinsame Eigenschaft. Du kannst sagen, dass ein Philosoph sein ganzes Leben lang so aufnahmefähig bleibt wie ein kleines Kind.
Und jetzt musst du dich entscheiden, liebe Sofie: Bist du ein Kind, das sich an die Welt noch nicht »gewöhnt« hat? Oder bist du eine Philosophin, die beschwören kann, dass ihr das auch nie passieren wird?
Wenn du einfach den Kopf schüttelst und dich weder als Kind noch als Philosophin fühlst, dann liegt das daran, dass du dich in der Welt so gut eingelebt hast, dass sie dich nicht mehr überrascht. In dem Fall ist Gefahr im Verzug. Und deshalb bekommst du diesen Philosophiekurs, sicherheitshalber eben. Ich will nicht, dass gerade du zu den Trägen und Gleichgültigen gehörst. Ich will, dass du ein waches Leben lebst.
Du bekommst den Kurs vollkommen gratis. Deshalb gibt es auch kein Geld zurück, wenn du ihn nicht mitmachst. Wenn du den Kurs irgendwann abbrechen möchtest, ist das kein Problem. Du brauchst mir nur eine Nachricht in den Briefkasten zu legen, sagen wir: einen lebendigen Frosch. Es muss jedenfalls etwas Grünes sein; wir wollen schließlich nicht den Postboten erschrecken.
Kurze Zusammenfassung: Ein weißes Kaninchen wird aus einem leeren Zylinder gezogen. Weil es ein sehr großes Kaninchen ist, nimmt dieser Trick viele Milliarden von Jahren in Anspruch. An der Spitze der dünnen Haare werden alle Menschenkinder geboren. Deshalb können sie über die unmögliche Zauberkunst staunen. Aber wenn sie älter werden, kriechen sie immer tiefer in den Kaninchenpelz. Und da bleiben sie. Da
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