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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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DIENSTAG
    5
Am frühen Morgen ging bei der Polizeidienststelle Grünwald ein Anruf ein. Ein Anwohner beschwerte sich darüber, dass die Hunde im benachbarten Garten seit Tagen bellten und jaulten. Obwohl er mehrmals bei seinem Nachbarn geklingelt hatte, öffnete niemand, und langsam begann er sich Sorgen darüber zu machen, dass dem alleinstehenden Mann etwas zugestoßen sein könnte. Die Frage, ob es möglich sei, dass sich der alte Herr auf Reisen befinde, verneinte er. Das sei völlig ausgeschlossen, Herr Ott würde seine Hunde niemals allein zurücklassen. Außerdem führe Herr Ott ein äußerst zurückgezogenes Leben und sei nicht sonderlich gesellig.
    Als die Polizei wenig später am Ott’schen Grundstück eintraf, machten die ausgehungerten und aggressiven Schäferhunde es den Beamten unmöglich, das Haus zu betreten. Erst als die Tiere betäubt und abtransportiert worden waren, konnten sich die Polizisten daranmachen, die massive Eichentür des eleganten Gebäudes aufzuhebeln.
    Sie traten in den großzügigen Eingangsbereich, wo ihnen sofort ein muffiger Geruch entgegenschlug. Der Raum lag im Halbdunkel. Die schweren, vergilbten Vorhänge vor den Fenstern verwehrten den Blick in den Garten. Die biedere Einrichtung stand in merkwürdigem Gegensatz zum pompösen Äußeren der Villa. Auf einer Kommode standen allerlei Porzellanfiguren, vornehmlich spielende Kinder und Hunde aller Rassen, an den Wänden Stickbilder mit Landschafts- und Hundemotiven. Den abgenutzten Dielenboden bedeckten fadenscheinige Perserteppiche.
    Im Haus war es still, was wegen des Lärms, den die Hunde kurz zuvor gemacht hatten, nun besonders auffiel. Außer dem Ticken einer alten Standuhr war nichts zu hören, die Stille dröhnte in den Ohren.
    Nachdem die Beamten das Erdgeschoss durchsucht hatten, stiegen sie die breite geschwungene Treppe in das obere Stockwerk hoch.
    Im Schlafzimmer stießen sie gleich neben der Tür auf die Leiche des Hausherrn. Er lag nackt, mit eingeschlagenem Schädel und erheblichen Verletzungen am ganzen Körper in einer Lache getrockneten Blutes. Seine Gliedmaßen wirkten seltsam verrenkt. Die trüben, eingefallenen Augen waren aufgerissen, der Mund war weit geöffnet wie zu einem tonlosen Schrei. Anscheinend hatte der alte Mann versucht, vor seinem Mörder zu fliehen, denn eine getrocknete Blutspur zog sich von der Mitte des Raums bis hin zur
Tür.

6
Sie hatte nahezu zwölf Stunden geschlafen, was für Neuzugänge nicht unüblich war. Nachdem sie etwas Brot mit Marmelade und Kaffee zu sich genommen hatte, brachte man sie in den Therapieraum.
    Die Psychiaterin, die sie dort erwartete, war um die fünfzig, von schlanker Gestalt, das dunkle Haar kinnlang geschnitten. Die braunen Augen hinter den Brillengläsern wirkten sanft und hatten doch etwas Energisches. Sie gab der jungen Frau die Hand, die sich kühl und fest anfühlte.
    Die Psychiaterin wies der jungen Frau einen Stuhl zu, und setzte sich selbst an ein kleines Tischchen mit einer Blumenvase.
    Dann sagte sie: »Mein Name ist Minkowa. Das Doktor können wir uns sparen. Wie heißen Sie?«
    Die junge Frau schwieg.
    »Sie wurden gestern früh in einem Wäldchen aufgefunden. Haben Sie eine Erinnerung daran, wie Sie dahin gelangt sind? Was davor geschehen ist?«
    Die Patientin blickte an der Ärztin vorbei an die Wand und schwieg.
    »Gibt es jemanden, den wir informieren sollen, jemanden, der sich eventuell Sorgen macht, warum Sie heute Nacht nicht nach Hause gekommen sind?«
    Die junge Frau fixierte die Wand, und die Stimme der Psychiaterin wurde leiser und immer leiser. Irgendwann hörte sie sie nicht mehr. Sie hatte eine Stelle entdeckt, die einer Flusslandschaft glich. An den Rändern des Wassers wuchsen dichte Büsche, dahinter breiteten sich Wiesen aus. Sie strahlten in sattem Grün, und der Fluss schlängelte sich klarblau durch die Landschaft. Das sah schön aus, und sie gab sich der Vorstellung hin, am Ufer zu sitzen und hinabzublicken in die Tiefe des Gewässers.
    Plötzlich riss die Stimme der Psychiaterin sie aus ihren Träumen.
    Die junge Frau blickte auf.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Nein. Danke.« Sie hatte offenbar beschlossen zu sprechen. »Ich musste bei der Landschaft an meine Kindheit denken. Da sah es genauso aus.«
    Die Ärztin blickte zur Wand. Außer dem Weiß der Tapete entdeckte sie nichts.
    »Haben Sie denn schöne Kindheitserinnerungen?«
    »Ja.« Die junge Frau neigte den Kopf zur Seite und lächelte. »Ich wuchs auf dem Land

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