Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Rundgänge, auf denen er schuldbewusst die Folgen seines unbedachten Vorschlags inspizierte, machte Beard am liebsten allein. Seit dem Frühsommer 2000 hatten die Nachwuchswissenschaftler jeder ein eigenes kleines Zellenbüro. Die Aufspaltung der Gruppe hatte geholfen, ebenso die Namensschilder an den Türen, doch Beard schrieb es vor allem dem eigenen Genie zu, dass er die jungen Männer nach sieben, acht Monaten auseinanderhalten konnte. Nach kaum einem halben Dutzend Fahrten vom Bahnhof Reading erkannte er - als er vom Manuskript für einen Vortrag aufblickte, den er am Abend in Oxford halten sollte -, dass es immer derselbe junge Mann war, der ihn abholte. Es war einer der beiden, die tatsächlich einen Pferdeschwanz trugen, ein langer Bursche mit schmalem Gesicht und einem Dauergrinsen, das seine dichtgedrängten, viel zu großen Zähne entblößte. Er kam aus der Gegend von Swaffham in Norfolk, wie Beard jetzt bei seinem ersten ernsthaften Gespräch mit ihm erfuhr, und hatte in London am Imperial College, dann in Cambridge und schließlich zwei Jahre am Caltech in Pasadena studiert, doch keiner dieser legendären Orte hatte es geschafft, seinen dialektalen Einschlag im Geringsten zu verwässern, den ländlichen Tonfall, die einfältigen Schlenker der ständig ansteigenden Satzmelodie, bei denen Beard immer an Hecken und Heuhaufen denken musste. Sein Name war Tom Aldous. Bei dieser ersten Unterhaltung erzählte er seinem Chef, er habe sich für den Posten am Institut beworben, weil er glaube, dass der Planet in Gefahr sei und dass er als Teilchenphysiker sich vielleicht nützlich machen könnte; als er gesehen habe, dass Beard, der Beard des Beard-Einstein-Theorems, an der Spitze des Teams stehen werde, sei er, Tom Aldous, begeistert davon ausgegangen, Forschungsschwerpunkt des Instituts werde Sonnenenergie sein, insbesondere künstliche Photosynthese und etwas, das er Nanosolartechnik nannte, ein Gebiet, das seiner Meinung nach...
    »Sonnenenergie?«, unterbrach ihn Beard sachte. Er wusste ganz genau, was das bedeutete, aber für ihn hatte der Ausdruck etwas Dubioses, etwas von New-Age-Druiden in langen Gewändern, die in der Mittsommerdämmerung um Stonehenge herumtanzten. Außerdem traute er keinem, der gewohnheitsmäßig den »Planeten« im Munde führte, um sein großformatiges Denken unter Beweis zu stellen.
    »Ja!«, lächelte Aldous mit seinen vielen Zähnen in den Rückspiegel. Dass der Chef kein Experte auf diesem Gebiet sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn. »Davon gibt es jede Menge, wir müssen sie uns nur zunutze machen, und wenn wir das erst einmal hinkriegen, werden wir selbst nicht mehr verstehen, warum wir jemals Kohle, Öl und derlei verbrannt haben.«
    Beard war fasziniert von Aldous' dialektgefärbter Aussprache. Für ihn nahm es dem, was der Mann sagte, jede Ernsthaftigkeit. Sie fuhren auf einer vierspurigen Umgehungsstraße, blühender Weißdorn auf dem Mittelstreifen verschwendete seinen Duft an die vorbeifahrenden Autos. Die Nacht zuvor hatte er, während Patrice mal wieder aushäusig war, schlaflos im Morgenmantel auf seinem Bett gelegen und bislang noch unveröffentlichte Briefe von Paul Dirac an verschiedene Kollegen gelesen. Dirac kannte nichts als seine Wissenschaft; Smalltalk und solches Zwischenmenschliches waren ihm fremd. Um Viertel vor sieben hatte Beard das Typoskript beiseitegelegt und sich im Badezimmer rasiert. Das Sonnenlicht drang bereits durch die Birke im Vorgarten und zeichnete ein Muster auf den Marmorboden unter seinen Füßen. Was für eine Vergeudung, was für eine Ressourcenverschwendung, die Sonne so früh am Tag so hoch stehen zu lassen. Während er mit dem Rasierer die neugesprossenen Haare zwischen seinen Augenbrauen entfernte, um sich ein jüngeres Aussehen zu verleihen, dachte er mit Wehmut an die unzähligen taghellen Stunden, die er Jahr für Jahr jeden Sommer versäumt hatte. Aber was hätte er tun sollen, was gab es für einen jungen Mann, egal zu welcher Jahreszeit, um sieben Uhr morgens Besseres zu tun als schlafen oder zur Arbeit gehen? Jetzt litt er schon seit Wochen unter Schlaflosigkeit.
    »Meinen Sie, wir werden«, fragte Beard und unterdrückte ein Gähnen, »jemals ohne Kohle, Öl und Gas auskommen?«
    Aldous steuerte sie zügig durch einen riesigen Verkehrskreisel, auf dem es zuging wie auf einer Rennbahn, bog unter Ausnutzung der Zentrifugalkraft; in einen abschüssigen Zubringer ein und gelangte auf die Autobahn, mitten hinein in den

Weitere Kostenlose Bücher