Die Weite fühlen - Solèr, P: Weite fühlen
Achtzehn Sommer war ich auf der Alp. Das Hirtenleben hat mich gepackt. Die stille Freiheit. Den Elementen ausgesetzt, in die Berge gebettet mit Tieren und Natur. Das prägt. Ein
dolce vita
ist der Alpsommer nicht immer, aber immer Sonntag. Gut, ihr mögt glauben, ich sei altmodisch – bin ich auch. Macht nichts, ich fühle mich wohl dabei. In der Zivilisation zu sein, heisst für mich, in Cons zu sein, im Weiler nach Vrin, zuhinterst im Tal.
Oj, ich bin in der Zivilisation. Kaum mache ich die Türe auf, läutet das Telefon. Können wir einen Termin abmachen? Kaum aufgelegt: Noch einer! Eigentlich steht schon anderes an. Aber gut, machen wir das. Irgendwie geht alles.
Angenommen, ich schlösse mich dem Internet an, wäre ich für noch mehr Menschen erreichbar. Will ich das? Etwas in mir sträubt sich dagegen. Ich bin gerne in Kontakt mit Menschen, aber am liebsten mit Telepathie. Sobald die Person bereit ist, kommt der Gedanke an. In einem ungünstigen Moment kann ich sie so gar nicht ansprechen. Gut, es kann auch sein, dass nichts ankommt. Vielleicht wird die Botschaft mit dem Wind weggetragen.
Ein Bekannter meinte einmal: Normale Leute ziehen aus dem Tal hinaus, und du ziehst noch weiter hinein. So bin ich eben. (Ich liebe die Stille.) Aber auch auf der Alp ist es nicht immer still. Wenn es regnet, kann es schön laut werden. Bäche mit Bergerde rauschen ins Tal, je nach Mineraliengehalt färben sie sich schwarz oder rot. Wegen dem Krach, den der Regen auf dem Blechdach macht, kann ich in der Hütte nicht mehr Radio hören.
Den Alpsommer bestimmt das Wetter. Gutes saftiges Gras ist Gold wert. Es macht Tiere und Hirten glücklich.
Es heisst oft, Schafe seien blöd, weil sie hintereinander den Fels hinab springen. Machen wir das nicht auch? Hast du ein iPhone, will ich auch eines.
Schafe sind zuweilen auch schlau. Einmal zog ein Trupp gegenüber der Hütte ins Tal. Eigentlich war es dafür noch zu früh, aber die Weide der Nachbarsalp weiter unten war eben saftiger. Gut, runter, über den Bach. Migo ist mein ständiger Begleiter. Sobald ich pfeife, reagieren Hund und Schafe. Die Schafe laufen den steilen Hang hinauf. Der Streifen liegt zwischen zwei felsigen Tälern. Links können sie rüber auf unsere Weide, aber nur, wenn die Lawine vom Winter noch da ist. Ist sie schon weg, müssen die Schafe bis ganz oben laufen. An diesem Tag ist die Lawine zwar noch da, aber die Schafe ziehen es vor, bis oben zu gehen. Gut, ich gehe mit. Am nächsten Tag realisiere ich, warum sie nicht über den Schnee wollten: Die Lawine ist eingebrochen. So wäre es auch am Vortag gewesen, wenn die Schafe drüber gegangen wären. Sie haben es gefühlt. Im Nebel haben sie mich dann heimgeführt, ich hätte die Wege alleine nicht gefunden.
Treuia, mein Hund, versucht eine Fliege zu fangen, im November! Es ist angenehm warm.
Das Ticken der Uhr ist sehr laut.
Die Erde – kann es sein, dass sie leidet? Kann sie uns Menschen noch ertragen? Gedanken, die mich traurig und nachdenklich machen, oder machen sie mir sogar Angst? Destruktive Gefühle, warum sie nähren? Gedanken ändern! Mensch und Erde werden geheilt. Ach, schon leichter ums Herz. Nacht bricht ein, mit ihr die Müdigkeit. Ein heller Stern leuchtet zwischen Milliarden von Sternen. Der Liebesbote.
Kürzlich war ich in Zürich. Am Abend habe ich vor lauter künstlichem Licht den Himmel nicht gesehen. Stattdessen sprangen mir Reklameschilder ins Auge. Profit und Geldjagd verstopfen unsere Sinne. Und nicht nur in der Stadt. Schade, dass wir Menschen so tief gesunken sind, gefangen in der Materie und Bequemlichkeit.
Auf der Alp bin ich drei Monate weg vom ganzen Tamtam. Balsam für Seele und Körper. Ich lebe mit wenig im Überfluss. Die Milch fliesst aus den Eutern der Ziegen – ein Genuss. Salat wächst vor der Hütte, auch Kräuter, von Gott gepflanzt. Bei warmem Wetter gibt es eine Sonnendusche, und wenn es kalt ist, tauche ich meinen Waschlappen ins am Feuer gewärmte Wasser. Ein Eimer und die Quelle, die wie ein Wunder aus der Erde sprudelt, sind meine Waschmaschine. Oft bedauere ich, dass ich das reine Wasser mit Shampoo und Waschmittel beschmutze. Die Toilette ist unter freiem Himmel, bei gutem und schlechtem Wetter. Nie zugesperrt, immer frei, Papier spare ich, um die Natur nicht zu verunreinigen, grosse nasse Blätter tun es auch. Für mich ist das alles kein Problem, Besucher finden sich auch damit ab. Sie sind ja nur für kurze Zeit hier.
Eine ehemalige Hirtin meinte
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