Sommersturm
dem verdatterten
Manfred ab und nahm Martha ins Visier.
„Jeder
hier im Raum weiß“, schrie die jetzt fast, „warum es unmöglich ist, ein Kind
bei dir aufwachsen zu lassen!“
„Ich
nicht“, beharrte Betty.
Sie
war kurz vor einem Wutausbruch, und der hätte die Situation womöglich gekippt
und Betty und mich verlieren lassen. Plötzlich waren wir eine
Notgemeinschaft.
„Auch
ich brauche eine Erklärung“, sagte ich ruhig.
Alle
starrten mich an.
„Einem
Kind kann man so etwas nicht erklären“, mischte sich Paula ein. Sie war
hochnäsig wie ein Lama und spuckte für ihr Leben gern Gift.
„Meinetwegen“,
sagte Betty, die sich scheinbar wieder beruhigt hatte. „Aber vielleicht kannst
du dann diesem Kind , das übrigens fünfzehn Jahre alt ist, wenigstens
erklären, weshalb es deiner Meinung nach in ein Heim gehört?“
„Weil
es keine Eltern mehr hat“, konterte Paula schnippisch. „Ganz einfach! Wir alle
sind sehr traurig darüber, aber es ist nicht zu ändern.“
Betty
drehte sich um zu mir. „Reicht dir das als Erklärung, Julian?“
Stumm
schüttelte ich den Kopf.
„Gut“,
sagte Betty und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen, „dann will ich es dir
erklären. Nach Einschätzung aller Anwesenden gehörst du in ein Heim, weil erstens
deine Eltern nicht mehr leben, zweitens keiner von ihnen dich zu sich nehmen
kann oder will und drittens die Einzige, die es will, ..., ja, die ist nach nur
einem Jahr Ehe geschieden worden, ist es das?“ Betty grinste.
„Lächerlich!“
fuhr Martha dazwischen. „Als wenn es das allein wäre. Viele sind geschieden
heutzutage.“
Betty
war wieder in Höchstform, sie ließ sich nicht bremsen.
„Oder
sagen wir: geschieden, weil sie ihren Mann betrogen hat, wie sie sicher sind.
Was natürlich in ihren Augen ein gewaltiger Unterschied ist. Aber damit nicht
genug. Sie lebt auch sechs Jahre nach der Scheidung noch immer ohne festen
Partner, obwohl sie mittlerweile zweiunddreißig ist. Ist das nicht
verdächtig? Deine Onkel und Tanten, Julian, wollen nicht, dass du meinem
schlechten Einfluss unterliegst. Und deshalb wollen sie dich opfern. Opfern auf
dem Altar ihrer miefigen, spießigen Doppelmoral!“
Martha
war tomatenrot angelaufen. Sie rang nach Luft und Worten. Aber noch ehe sie
etwas rausbringen konnte, sagte Betty ganz ruhig: „Oder soll ich noch
deutlicher werden, was die Doppelmoral betrifft?“ Mit einer pfeilschnellen
Drehung schoss sie herum zu Kurt, Marthas Mann, der gerade seine Stirn mit
einem Taschentuch abtupfte. „Kurt, was meinst du dazu? Soll ich?“
Ich
hatte keine Ahnung, warum sie ausgerechnet Kurt in die Schusslinie zerrte. Er
war der einzig halbwegs sympathische Typ in dieser verkorksten Familie. Er
konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, war immer freundlich und stand ziemlich
unter dem Pantoffel von Martha.
Die
handelte nun geistesgegenwärtig: „Was sagst du denn überhaupt dazu,
Julian?“, fragte sie freundlich aber entschieden und pflanzte ihren breiten
Hintern neben mich auf die Lehne, „Möchtest du denn überhaupt bei deiner Tante
Bettina leben?“ Dabei streichelte sie mir über den Kopf wie einem
minderbegabten Achtjährigen.
„Warum
nicht?“ Diese Worte klangen aus meinem Mund so harmlos wie
Weihnachtsglöckchen, auch wenn sie mich noch immer selbst überraschten.
Erleichtertes
Aufatmen in der Runde. Man konnte es hören, es war wie ein großes
Zischen. Urplötzlich schienen alle hoch zufrieden mit diesem glimpflichen
Ausgang der festgefahrenen Situation. Dieser Sinneswandel konnte nur mit Bettys
verkappter Drohung gegen Kurt zusammenhängen. Aber ich fand, dass mir das
völlig schnurz sein konnte und verkrümelte mich umgehend.
In
meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett und dämmerte sofort hinüber ins Land der
Träume. Es war das erste Mal seit dem Tod meines Vaters, dass ich die ganze
Nacht durchschlief.
3
Mein
Umzug zu Betty bedeutete auch einen Wechsel der Schule. Ich hätte auch an der
alten Schule bleiben können, aber ich hatte keine Lust auf die lange Fahrzeit.
Der
Wechsel machte mir wenig aus. So befürchtete ich nicht, dass ich in der Schule
absacken könnte. Schulische Leistungen waren nicht mein Problem. Für gute Noten
brauchte ich mich nicht mal besonders anzustrengen.
Mein
Verhältnis zu den Lehrern war trotzdem nicht gerade herzlich. Auch das würde an
der neuen Schule nicht anders sein als an der alten. Lehrer mochten mich nicht
und ich mochte sie
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