Sonnensturm
hatte eine glatte
Textur, die ihn an Perlmutt erinnerte. Er wusste aber auch, dass
hinter der schönen Fassade eine elektromagnetische
Hölle tobte, gegen die die Menschen mit ihrer Technik kaum
etwas auszurichten vermochten – eine Hölle, die eine
primäre Ursache des gesundheitsschädlichen
Weltraumwetters war, dessen Beobachtung er sein Leben gewidmet
hatte.
Im Zentrum der Korona machte er die eigentliche Scheibe der
Sonne aus, die durch die Visierfilter auf ein trübes,
kohlenartiges Glühen reduziert war. Er gab den Befehl zur
Vergrößerung und erkannte Einsprengsel, bei denen es
sich vielleicht um Granulen handelte, die mächtigen
Konvektionszellen, mit denen die Sonnenoberfläche quasi
›gekachelt‹ war. Und in der Nähe des Zentrums
der Scheibe erspähte er einen gerade noch sichtbaren
dunkleren Fleck – offenkundig keine Granulen, sondern viel
ausgedehnter.
»Eine aktive Region«, murmelte er.
»Und eine große noch dazu«, erwiderte
Thales.
»Ich habe das Logbuch gerade nicht zur Hand… ist
das hier etwa 12.687?« Seit Jahrzehnten hatten Menschen die
aktiven Regionen nummeriert, die sie auf der Sonne beobachteten:
die Ursprünge von Protuberanzen und anderen
Störungen.
»Nein«, sagte Thales. »Die aktive Region
12.687 wird schon wieder schwächer und liegt auch etwas
weiter westlich.«
»Was hat es dann…«
»Diese Region hat noch keine Nummer. Sie ist erst vor
kurzem entdeckt worden.«
Michail stieß einen Pfiff aus. Die Entwicklung einer
aktiven Region dauerte normalerweise mehrere Tage. Durch das
Studium der Sonnenresonanzen – extrem langsamer
Schallwellen, die sich durch ihre Struktur fortpflanzen –
konnte man normalerweise größere Regionen auf der
Rückseite orten, noch bevor sie durch die gemessene Rotation
des Sterns im Blickfeld erschienen. Mit diesem Ungeheuer schien
es jedoch eine andere Bewandtnis zu haben.
»Die Sonne ist heute unruhig«, murmelte
Michail.
»Michail, deine Tonlage ist ungewöhnlich. Glaubst
du etwa, die aktive Region sei schon da gewesen, bevor du die
Abbildung angefordert hast?«
Michail hatte schon viel Zeit allein mit Thales verbracht und
dachte sich deshalb nichts bei dieser unverhohlenen Neugier.
»Man entwickelt mit der Zeit einen Instinkt für solche
Dinge.«
»Die menschlichen Sinne sind und bleiben ein
Rätsel, nicht wahr, Michail?«
»Ja, das stimmt.«
Aus dem Augenwinkel machte Michail eine Bewegung aus. Er
wandte sich von der Sonne ab. Als die Gesichtsplattentönung
sich wieder abschwächte, erkannte er ein Licht, das aus dem
Mondschatten auf ihn zu kroch. Es war für Michail ein fast
so ungewöhnlicher Anblick wie das Antlitz der unruhigen
Sonne.
»Ich scheine Besuch zu bekommen. Thales, du solltest
dafür sorgen, dass wir genug heißes Wasser für
die Dusche haben.« Dann trat er den Rückweg auf dem
Pfad an, wobei er trotz der zunehmenden Aufregung sorgfältig
darauf achtete, wohin er den Fuß setzte.
»Dies verspricht ein überaus interessanter Tag zu
werden«, sagte er sich.
{ 3 }
ROYAL SOCIETY
Siobhan McGorran saß allein in einem tiefen Armsessel.
Sie hatte ihre persönliche Softscreen auf dem Schoß
entrollt, eine Tasse starken Kaffees auf dem Beistelltisch neben
sich und den Telefonhörer zwischen Ohr und Schläfe
geklemmt. Sie probte den Vortrag, den sie in weniger als einer
halben Stunde vor einem erlauchten akademischen Publikum halten
würde.
»2037 verspricht das bedeutendste Jahr für die
Kosmologie seit 2003 zu werden«, las sie laut, »als
nämlich die Grundbestandteile des Universums – die
Anteile baryonischer Materie, dunkler Materie und dunkler Energie
– erstmals korrekt determiniert wurden. 2003 war ich elf
Jahre alt, und ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war, als die
Resultate von der Anisotropen-Mikrowellensonde Wilkinson eintrafen. In dem Moment war ich wohl kein cooler Teenager! Doch
für mich war MAP ein robotischer Kolumbus. Diese wackere
Kosmologie-Sonde wurde in der Hoffnung entsandt, ein
Dunkelmaterie-China zu finden und stolperte dabei über ein
Dunkelmaterie-Amerika. Wie Kolumbus’ Entdeckung die
Geografie der Erde für immer in den Köpfen der Menschen
verankert hatte, lernten wir im Jahr 2003 etwas über die
Geografie des Universums. Und dank der Resultate, die wir von der
neusten Anisotropen-Sonde Quintessenz erwarten, werden wir
heute, im Jahr 2037…«
Die Lampen im Raum blinkten und unterbrachen sie bei der
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