Kennedys Hirn
Henning Mankell
Kennedys Hirn
ROMAN
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2005 unter dem Titel Kennedys hjärna im Leopard förlag in Stockholm.
1 2 3 4 5 09 08 07 06 05 ISBN-10: 3-552-05347-6 ISBN-13: 978-3-552-05347-2 © Henning Mankell 2005 Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe © Paul Zsolnay Verlag Wien 2006 Satz: Filmsatz Schröter, München Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany
Für Ellen und Ingmar
Teil 1
»CHRISTUS-SACKGASSE«
»Die Niederlage soll ans Licht, nicht vergraben werden, denn an der Niederlage wird man zum Menschen. Wer seine Niederlagen nie versteht, trägt nichts mit sich in die Zukunft.«
Aksel Sandemose
D ie Katastrophe kam im Herbst und brach ohne Vorwarnung über sie herein. Sie warf keine Schatten, sie bewegte sich vollkommen lautlos. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie eine Vorstellung davon, was geschah.
Es war, als wäre sie in einer dunklen Gasse in einen Hinterhalt geraten. Doch die Wahrheit war, daß sie gezwungen wurde, sich von den Ruinen abzuwenden, einer Wirklichkeit zu, um die sie sich eigentlich nie gekümmert hatte. Gewaltsam wurde sie in eine Welt hinausgeschleudert, in der sich niemand besonders für das Ausgraben bronzezeitlicher griechischer Grabanlagen interessierte.
Sie hatte tief in ihren staubigen Tongruben gelebt, hatte sich über zerbrochene Vasen gebeugt, die sie zusammenzusetzen versuchte. Sie hatte ihre Ruinen geliebt und nicht gesehen, daß die Welt um sie her im Begriff war einzustürzen. Sie war die Archäologin, die aus der Vergangenheit an ein Grab trat, von dem sie sich nie hatte vorstellen können, sie würde an ihm stehen.
Es gab keine Vorzeichen. Der Tragödie war die Zunge herausgeschnitten worden. Sie hatte ihr keine Warnung zurufen können.
Am Abend bevor Louise Cantor nach Schweden reiste, um an einem Seminar über die laufenden Ausgrabungen bronzezeitlicher Gräber teilzunehmen, trat sie im Badezimmer mit dem linken Fuß in eine Keramikscherbe. Der Schnitt war tief und blutete stark. Die Keramikscherbe war aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, und das Blut auf dem Fußboden bereitete ihr Übelkeit.
Sie befand sich in der Argolis auf der Peloponnes, es war September, und die Grabungskampagne des Jahres ging ihrem Ende zu. Sie ahnte schon schwache Windstöße, die Vorboten der kommenden Winterkälte mit sich trugen. Die trockene Wärme mit ihrem Duft von Rosmarin und Thymian verlor sich bereits.
Sie stillte den Blutfluß und schnitt ein Pflaster zurecht. Eine Erinnerung schoß ihr durch den Kopf.
Ein rostiger Nagel, der ihr direkt in den Fuß gedrungen war, nicht den, an dem sie sich eben geschnitten hatte, sondern den anderen, den rechten. Sie war fünf oder sechs Jahre alt gewesen, der braune Nagel war ihr direkt in die Ferse gedrungen, hatte die Haut und das Fleisch durchstoßen, als wäre sie aufgespießt von einem Pfahl. Sie hatte vor Entsetzen hemmungslos geschrien und gedacht, daß sie jetzt die gleichen Qualen erlebte wie der Mann am Kreuz da vorn in der Kirche, in der sie manchmal ihre einsamen Gruselspiele spielte.
Wir werden von diesen angespitzten Pfählen durchbohrt, dachte sie, während sie das Blut von den gesprungenen Fliesen aufwischte. Eine Frau lebt immer in der Nähe all dieser Spitzen, die dem, was sie zu schützen versucht, schaden wollen.
Sie humpelte in den Teil des Hauses, der ihr Arbeitsplatz und ihr Schlafzimmer war. In einer Ecke hatte sie einen knarrenden Schaukelstuhl und einen Plattenspieler. Den Schaukelstuhl hatte der alte Leandros ihr geschenkt, der Nachtwächter. Leandros war schon in den dreißiger Jahren als armes, aber neugieriges Kind dabeigewesen, als die schwedischen Ausgrabungen in der Argolis begannen. Jetzt schlief er sich als Nachtwache auf dem Mastoshügel schwer durch die Nächte. Aber alle, die an der Arbeit beteiligt waren, verteidigten ihn. Lean-dros war ein Maskottchen. Ohne ihn wären alle zukünftigen Mittel für weitere Ausgrabungen gefährdet. Mit dem Fortschreiten des Alters war Leandros in der letzten Zeit ein zahnloser und meistens auch ziemlich schmutziger Schutzengel geworden.
Louise Cantor setzte sich in den Schaukelstuhl und betrachtete ihren verletzten Fuß. Sie mußte lächeln beim Gedanken an Leandros. Die meisten schwedischen Archäologen, die sie kannte, waren auf eine aufrührerische Weise gottlos und weigerten sich, in den verschiedenen Behörden etwas anderes zu sehen als
Weitere Kostenlose Bücher