Spaetestens morgen
sprach, mit ihren Augen aufsog. Wahrscheinlich liebte ich sie deshalb so sehr, weil sie auf diese besondere Art zuhörte und ganz nebenbei Sätze sagte wie: »Ich kann einsam sein wie ein Mann.«
Wir wohnten als Kinder in derselben Straße, verkleideten uns als Prinzessinnen und spazierten in diesem Aufzug händchenhaltend durch das Viertel. Abwechselnd verbrachten wir das Wochenende in ihrem oder meinem Elternhaus. Clarices Mutter, Sophie, hatte eine kleine helle Stimme. Wenn wir abends nach Kamille duftend aus dem Bad kamen und unter die Bettdecke krochen, stand sie manchmal vor dem Bett, rief ihren Mann herbei, schlug die Hände zusammen und meinte zu ihm, wir würden aussehen wie Schwestern. Tatsächlich aber hatte Clarice braune Locken und ich dunkelblondes glattes Haar. Einmal schnitt ich ihr, zum Zeichen unserer Freundschaft, eine Locke vom Kopf und bewahrte sie in einer Streichholzschachtel auf.
Wir kamen beide in die gleiche Schule, und auf unser Drängen hin sorgten unsere Eltern dafür, dass wir auch in dieselbe Klasse kamen. Ein paar Jahre lang saßen wir nebeneinander auf der Schulbank und schrieben bei den Prüfungen die Fehler voneinander ab. Während des Unterrichts schoben wir uns gefaltete Zettel zu, auf denen wir die Lehrer mit kleinen fiesen Zeichnungen karikierten und uns über sie lustig machten. Schließlich wurden wir getrennt und in zwei Klassen verlegt, weil wir uns, wie es hieß, »negativ beeinflussten«, was zur Folge hatte, dass wir uns weniger sahen.
Doch was unverändert blieb, war die Gewissheit, dass wir uns verstanden, ohne dass wir uns etwas zu verstehen geben mussten.
Mit siebzehn nahm sich Clarice ein kleines Zimmer mitten in der Stadt und arbeitete an den Wochenenden bis zwei Uhr morgens hinter der Theke einer Bar. Damals kauften sich ihre Eltern das Sommerhaus am Meer. Clarice besuchte ihre Eltern nur noch zu festgelegten Zeiten. »Man muss auch die familiären Beziehungen organisieren«, sagte sie zu mir, als sie mir ihren Terminkalender zeigte, in den sie mit Rotstift »Eltern besuchen« eingetragen hatte. Sie besuchte sie zu Ostern und an Weihnachten. Und im Sommer fuhr sie für zwei Wochen in das Haus am Meer. Dann allerdings fuhr sie nie allein, sondern nahm ihren jeweiligen Freund mit. Meistens hörte ich nur noch dann von ihr, wenn gerade wieder eine ihrer zahlreichen Liebschaften in die Brüche gegangen war. Clarice verliebte sich leidenschaftlich gern. Sie trug ihren schönen rundlichen Körper wie ein Geschenk durch die Straßen der Stadt. Einmal rief sie mich mitten in der Nacht an und teilte mir mit dunkler Stimme mit, das einzige Sichere in ihrem Leben seien ihre Eltern und ich. Das war kurz bevor uns das Abiturzeugnis überreicht wurde. Dann verschwand Clarice ins Ausland, und ich habe jahrelang nichts mehr von ihr gehört. Wenige Male traf ich Sophie zufällig an einer Straßenkreuzung oder beim Einkaufen: »Clarice ist jetzt an einer berühmten Schauspielschule«, verkündete sie. Es gehe ihr großartig. Im Sommer dann käme sie wieder ins Ferienhaus, zusammen mit ihrem Freund. Ich richtete Grüße aus. Jedes Mal wenn ich Sophie traf, war ihre kleine helle Stimme noch leiser geworden; ihre Stimme schien Jahr für Jahr zu schrumpfen. Wenn ich mich nach Clarice erkundigte, hauchte sie, ja, sie sehe sie im Sommer, dann käme sie wieder mit Thomas. Die Namen ihrer Freunde wechselten von Thomas zu Paul, über Erich zu Robert. In Gedanken sah ich einen Stuhl am Tisch im Sommerhaus der Familie Schmitz, an dem jedes Jahr ein anderer junger Mann neben Clarice saß.
Jahre später, nach einem kurzen, ungewöhnlich kalten Winter, traf ich Clarice zufällig in einem Kleidergeschäft in der Heimatstadt wieder. Ich suchte etwas, das ich zur Hochzeit einer Bekannten anziehen könnte, und stand gerade in einem feierlich wirkenden, mit Pailletten besetzten Kleid vor dem Spiegel, als sie mir auf die Schulter tippte. Clarices Augen waren noch größer geworden, als ob das Gesehene ihre Pupillen gedehnt hätte. Wir setzten uns in ein Straßencafé und schauten den Menschen nach, die an uns vorbeigingen. Clarice zerstieß mit dem Löffelstiel die Eiswürfel in ihrem Glas, während sie erzählte, dass sie nach einem Zusammenbruch das Schauspielstudium abgebrochen hatte. Von morgens bis abends war sie mit rasendem Herzen kokainverladen herumgerannt. Tagelang hatte sie nichts gegessen, weil sie es vergessen hatte, und eines Morgens war sie dann im Unterricht mitten in einer Probe
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