Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
band mich ihre kreative Lebenseinstellung an sie. Joan nahm es auf sich, mir ein paar »Eriksonsche Erfahrungssätze« anzubieten: Sie wolle sich bemühen, mich von meiner Kopflastigkeit zu befreien und mir meinen Körper stärker bewußt zu machen, mir beizubringen, eher aktiv als passiv zu sein, mich auf meine Sinne zu verlassen und die Intensität der Erfahrungen zu spüren und nicht mehr »sooo ernst« zu sein. »Vom Leben zu lernen ist viel förderlicher, als aus einem Buch zu lernen«, sagte sie. »Wenn ich die Wahl habe, ziehe ich es fast immer vor, aufzustehen und laut zu rufen.«
Und sie machte auf sich aufmerksam. Sie war einst ein reizbares Kind gewesen, und ihre Lebensgeschichte ist ein Beweis für ihr Beharren darauf, daß »wir alle heimlich planen sollten, uns so bald wie möglich aus der Abhängigkeit zu befreien. Alle Fähigkeiten zu erlernen, die uns die Welt eröffnen und uns frei machen.«
Als sie Anfang zwanzig war, ging sie nach Europa, um dort |10| modernen Tanz zu studieren, ein Vorhaben, das für eine alleinstehende Frau um 1920 unerhört war. »Ich war zwanzig und hatte es eilig – ich war so begierig darauf, daß sich etwas bewegte, irgendwas. Ich war Tänzerin und an nichts interessiert, was nach Seßhaftigkeit aussah. Ich suchte nach Türen, die sich öffneten.« Aber statt dessen fand sie ihren Seelengefährten und Liebhaber Erik Erikson, einen Künstler, der zum Analytiker geworden war und bei Sigmund Freud studierte, und bekam mit ihm zwei ihrer drei Kinder, bevor sie schließlich heirateten!
Als Tänzerin bei Isadora Duncan trug sie so wenig am Körper wie irgend möglich, und als Professorengattin in Harvard lehnte sie den für diese Stellung angemessenen Tweed ab, sie entschied sich für Kittel, Trikothosen und kurz geschnittenes Haar. »Es geht darum, eine Haltung einzunehmen, wenn es wirklich darauf ankommt«, sagte sie gerne, »und sich diese Haltung dann zu bewahren, sich nicht verbiegen zu lassen.«
»Ich kann mich wirklich nicht an meine mittleren Jahre erinnern«, sagte sie. »Vielleicht blieb mir die Trostlosigkeit erspart, die so viele Frauen in dieser Zeit erleben, weil ich einen Beruf hatte, der jeden kreativen Impuls meines Körpers forderte. Es war die Art Arbeit, die aus sich selbst lebt, und daher wiederum das Leben aufregend macht. Zu der Zeit sollte ich wohl meine Depressionen gehabt haben, aber ich kam nie dazu. Doch muß ich auch zugeben, daß ich Depressionen nicht sehr mag. Wenn ich am Boden bin, versuche ich so schnell wie möglich herauszufinden, wie ich wieder hochkomme.«
Statt Ratschlägen bot Joan immer Aktivitäten an. »Wichtig ist, etwas zu
tun
, selbst wenn es so etwas Simples wie das Aufhäufen von Kieselsteinen ist. Denn es ist immer das Tun, das zum Werden führt, und bevor man sich’s versieht, ist man im nächsten Lebensstadium.«
In diesem Buch habe ich versucht, das Wesentliche unserer Freundschaft einzufangen und etwas von der Weisheit weiterzugeben, an der sie mich teilhaben ließ. Es ist kein chronologisch |11| ausgewogener Bericht unserer gemeinsamen Zeit. Wie in jeder Beziehung gab es auch in unserer Aufs und Abs. Doch selbst während der Abs hörten wir nicht auf uns zu sehen, unsere Nähe zu vertiefen, dennoch habe ich mich hier auf die Zeiten beschränkt, in denen ihre Inspiration am stärksten war.
Ihre Philosophie, wenn man es so nennen will, lautete ungefähr so:
Heiße jeden Tag so willkommen wie ein gutes Mahl.
Die Essenz eines gut verarbeiteten Lebens rührt aus dem Wissen um die eigenen Stärken, von einer Überdosis an Eindrücken für die Sinne und davon, aktiv und spielerisch zu bleiben.
Laß den Pflug nicht los – schiebe – hör nie auf zu schieben.
Sei immer bereit, noch ein bißchen mehr Energie einzusetzen – die Spannung sollte immer vorhanden sein.
Dann wird dein Leben nie schlaff werden.
Ich hoffe, daß sich meine Leser durch die Lektüre dieses kleinen Buches genauso von Joan leiten lassen werden, wie es mir geschah. »Wichtig ist, sein Wissen mit anderen zu teilen«, sagte sie immer wieder. »Großzügig zu sein und das Wissen weiterzugeben. Darauf kommt es vor allem an.«
|13| Aus dem Nebel
Der Anruf kam, als ich mich gerade für eine Essenseinladung umzog. »Joan stirbt«, teilte mir ihre Pflegerin ohne Einleitung mit.
»Was?« Ich war wie betäubt und hielt den Hörer schweigend fest, während mein Herz zu rasen begann. »Wie kann das sein?« fragte ich, wollte die
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