Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
Vom Netzwerk:
sachliche Endgültigkeit von Karens Ankündigung von mir weisen. »Vor einer Woche ging es ihr doch noch gut, und sie hat ihr Geburtstagsfest so genossen.« Ich hörte den flehenden Ton in meiner Stimme.
    »Ich weiß«, bestätigte Karen, »aber irgendwann in der letzten Woche hat sie sich ins Bett gelegt, als sei ihr Wille gebrochen. Diese letzten paar Monate waren ein solcher Kampf. Sie hat das Pflegeheim so verabscheut.«
    Das war eine Untertreibung. Joan hatte mir mal gesagt, einen alten Menschen ins Pflegeheim zu bringen sei fast so, als werfe man ihn auf den Müll. »Diese Einrichtungen befinden sich meist weit außerhalb des Ortes«, sagte sie, »und die armen Insassen sind vom wirklichen Leben abgeschnitten.« Aber als ihre Gebrechlichkeit und die Ohnmachtsanfälle zunahmen, waren ihre Familie und Ärzte der Meinung, sie bräuchte Aufsicht, vor allem, da sie die Angewohnheit hatte, die Pflegerinnen rauszuwerfen, die sie zu Hause betreuen sollten. Doch seit sie ins Heim gekommen war, hatte ich beobachtet, wie ihre Energie und Entschlossenheit allmählich schwanden.
    »Darf sie Besuch empfangen?« fragte ich.
    »Ja, Sie könnten jetzt kommen, wenn Sie wollen. Die Familie ist zum Essen gegangen.«
    |14| Ich legte auf und sank auf einen Stuhl beim Telefon. Ein gewöhnlicher Tag hatte plötzlich eine immense Bedeutung bekommen. In den letzten paar Jahren war Joan meine größte Stütze gewesen. Obwohl sie in vieler Hinsicht das Gegenteil von mir zu sein schien – groß, aristokratisch, in ihrem Körper zu Hause, überbordend von nachdenklich stimmenden Idealen   –, erkannten wir rasch, daß wir beide Suchende waren. Sie suchte nach Möglichkeiten, bis zum Ende beteiligt und vital zu sein, während ich mich von einem strukturierten Leben und all den Rollen lösen wollte, die ich gespielt hatte.
    Als Joan auftauchte, benötigte ich dringend jemanden, der meinem gleichförmigen Leben einen neuen Impuls gab, und sie war perfekt dafür. Ich habe mich stets zu älteren Menschen hingezogen gefühlt, besonders zu jenen, die sich von der Allgemeinheit abheben. Joan war weise, von Natur aus unkonventionell, sie hatte sich immer den gesellschaftlichen Regeln widersetzt. Wichtiger noch, sie machte mir klar, daß wir bei allem, was wir zusammen unternehmen wollten, Spaß haben würden. Da sie voller Überraschungen war, hätte ich wohl nicht schockiert sein sollen, daß sie diese Welt ohne Vorwarnung verlassen würde. Trotzdem, zu erfahren, daß ihr Tod kurz bevorstand, war zu viel für mich. Ich mußte zu ihr und sie um meiner selbst willen sehen.
    Ich schluckte meine Tränen, griff nach den Autoschlüsseln und fuhr los, immer noch in der Hoffnung, daß Karen nur dramatisierte und Joan bald wieder ihr koboldhaftes Selbst finden würde. Die fünfzehn Minuten lange Fahrt verging schnell, während mir Bilder durch den Kopf schossen – Joan am Strand, mit Tang auf dem Kopf, um wie eine Meerjungfrau auszusehen; Joan, die an einem kalten Wintermorgen zu dem Beatles-Song »A Hard Day’s Night« durch meine Küche tanzt; Joan, die sich auf der Ladefläche eines Pickups festklammert, während wir auf dem Weg zur Spitze des North Beach durch den dicken Sand schlingern.
    |15| Ich bog auf den Parkplatz von Brewster Manor ab und lief zum Schwesternzimmer. Bei sich zu Hause hatte Joan mich immer von ihrem Balkon aus begrüßt, beide Arme winkend ausgestreckt. Aber weit weg von ihren geliebten Kleinstadtgeräuschen – läutende Kirchenglocken, zwitschernde Vögel und spielende Nachbarskinder – war ihre Begeisterung für große Begrüßungsgesten geschwunden.
    Ich ging den antiseptischen Flur entlang, der während des Tages schon trist war, aber abends besonders trostlos wirkte, und als ich um die Ecke bog, sah ich eine Schwester aus Joans Zimmer kommen. »Ist sie...«, stammelte ich, wollte das Schlimmste nicht aussprechen.
    »Sie ruht sich aus«, beruhigte mich die Schwester. »Sie können reingehen.« Ich öffnete die Tür, und eine sanfte Brise wehte mir ins Gesicht. Im Radio lief leise keltische Musik, die Stores bewegten sich leicht in der Sommerluft. Die Wände waren mit Fotos von Freunden bedeckt, die alle vor kurzem hier gewesen waren, um Joans fünfundneunzigsten Geburtstag mit ihr zu feiern. Da lag Joan, ihre schmale Gestalt unter einer frischen weißen Decke, der eingesunkene Körper ganz ruhig, die Augen fest geschlossen. Es war seltsam, sie so still zu sehen. Sie hatte mich immer inspiriert – mir Leben eingehaucht,

Weitere Kostenlose Bücher