Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
|7| Prolog
Kein Tag vergeht, ohne daß ich am Meer spazierengehe. Der Strand ist mein wahres Zuhause, der breite Sandstreifen so einladend wie die offenen Arme einer Mutter. Darüber hinaus erinnert mich diese Landschaft, die so weit reicht, wie das Auge blicken kann, immer an meine Möglichkeiten. Hier kann ich meiner inneren Stimme lauschen, Hemmungen ablegen, mich im Rhythmus der Wellen bewegen und dem Universum Fragen stellen, die nicht zu beantworten sind. Das ist der Grund, warum ich, als ich mich in meiner Ehe und meinem Leben an einem Scheideweg befand, nach Cape Cod floh und ein Jahr am Meer verbrachte. Ich war davon überzeugt, daß mir dieser Ort, der so angefüllt ist mit meiner persönlichen Geschichte, Klarheit verschaffen würde.
Daran, daß ich das Meer im Blut habe, gibt es ebensowenig Zweifel wie an dem Sand in meinen Schuhen. Hier habe ich in meiner Kindheit den Sommer verbracht, mich mit meinem Mann verlobt, hierher sind wir nach drei Jahren im Friedenscorps zurückgekehrt, um auf die Geburt unseres ersten Kindes zu warten, und hier tollen unsere Kinder und ihre Kinder jetzt in ihren Sommerferien herum.
Der Strand ist für mich eine geheiligte Zone zwischen Erde und Meer, eine jener Zwischenzonen, in denen es möglich ist, Übergänge zu erleben – wo ein Ende betrauert werden und ein Anfang gemacht werden kann. Betrachtet man den Horizont, tun sich endlose Möglichkeiten auf. Geht man mit gesenktem Kopf, stößt man auf ein Geschenk der Natur nach dem anderen. Spielt man mit der Flut, spürt man einen Hauch von Abenteuer. |8| Stürzt man sich in die Brandung, erlebt man den Ansturm des Risikos.
Eines der wertvollsten Geschenke, die mir der Strand gegeben hat, war Joan Erikson, eine alte Frau, die ich durch Zufall an einem nebligen Februartag kennenlernte. Zu einer Zeit, als ich glaubte, daß alles verloren sei, spornte sie mich an, mich selbst wiederzufinden.
Es war fesselnd, an einem so trüben Tag auf jemanden zu stoßen, der so alt und gebrechlich war – eine Frau, die von dem Augenblick an, als ich sie zu Gesicht bekam, eine stete Quelle der Faszination wurde. Ohne es zu wissen, hatte ich die Mentorin gefunden, die ich gesucht hatte – jemand, der mich unter seine Fittiche nahm und mir half zu verstehen, auf was es wirklich ankommt. Ich war einundfünfzig, und sie war vierzig Jahre älter als ich. Sie hatte sich nach Cape Cod zurückgezogen, um für ihren kranken Mann zu sorgen, und ich war von meinem weggelaufen, um mich selbst wiederzufinden. Wir wurden Gefährtinnen, spornten einander zu größeren und besseren Dingen an. Sie war eine heitere Seele, war ständig in Bewegung und schwer zu fassen. »Tief in meinem Herzen findest du den besten Teil von mir«, schrieb Joan in einem ihrer Gedichte, und so jagte ich einige Jahre lang ihrer unkomplizierten Weisheit nach in der Hoffnung, daß etwas davon auf mich abfärben würde.
Joan stellte sich als Ehefrau und Mitarbeiterin von Erik Erikson heraus, einem führenden Psychoanalytiker, dessen Studien zur menschlichen Entwicklung die heutige Psychologie stark beeinflußt haben. Und da war ich, mitten in der Midlifekrise, als ich die Person kennenlernte, deren Mann den Begriff »Identitätskrise« geprägt hatte.
Der kosmopolitische Lebensstil, den sie pflegte, die Arbeit, die sie mit ihrem Mann teilte, ihre Erfahrungen mit der Welt des modernen Tanzes, ihre Schriftstellerei (sie hatte fünf Bücher verfaßt), ihre Entdeckung der Wirksamkeit von Kunsttherapie |9| innerhalb der Psychoanalyse und ihre Erfahrung als Ehefrau und Mutter boten mir all die Weisheit, die ich brauchte, um die zweite Hälfte meines Lebens in Angriff zu nehmen. Aber am meisten faszinierte mich, daß vor allem die Widrigkeiten, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte, und nicht so sehr ihr späteres vom Glück begünstigtes Leben, am stärksten für ihre Einstellung und ihre Ideale verantwortlich waren. »Ich habe am Anfang Milliarden Fehler gemacht, die sich als fruchtbarer Nährboden erwiesen, um daraus zu lernen. Trotzdem werde ich von Zeit zu Zeit immer noch untergepflügt – vielleicht bin ich nur ein Büschel verschlungenen Unkrauts«, sagte sie mal zu mir, immer respektlos und oft tiefstapelnd.
Originelle Menschen wie Joan streben danach, von ausgetretenen Pfaden abzuweichen. Sie sehnen sich danach, das Unbekannte zu erforschen, und stellen sich Herausforderungen, denen die meisten von uns aus dem Weg gehen würden. Vom Augenblick unseres Kennenlernens an
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