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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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gewesen sei. Er sah mich mit verschleierten Augen an, lächelte schwach und bewegte den Kopf langsam nach rechts, nach links. Dann sackte er wieder nach rechts, wie unter dem Druck einer unsichtbaren Hand. Die Augen meines Vaters starrten mich an – und sahen nichts mehr. Er war gestorben.
Ein rascher, verzweifelter Blick auf meine Mutter machte mir klar, dass sie ebenfalls tot war. Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube fest, dass sie beide in derselben Sekunde das Leben verlassen haben. Sie waren eins im Leben, sie waren eins im Tod.
Ich weinte. Es hätte noch so viel zu sagen gegeben, so vieles hätte klargestellt werden müssen, so vieles verziehen. Wenigstens war ich bei ihnen gewesen. Nun waren sie von mir gegangen, und ich war allein. Was ich so viele Jahre hindurch gesucht und mit aller Kraft verteidigt hatte, war in einem gemeinsamen letzten Atemzug Wirklichkeit geworden. Ich war allein. Meine Eltern, gegen die ich andauernd aufbegehrt hatte, lebten nicht mehr. Ich war allein. Nicht mehr aus eigenem Willen, sondern von den Ereignissen dazu gezwungen. Ich weinte um meine Eltern.
Und ich verabscheute mich, weil ich auch um mich und um das weinte, was ich mit ihnen verloren hatte.
Der fremde Mann betrat das Schlafzimmer.
„Es ist alles vorbereitet“, sagte er, während er neben dem Leichnam meiner Mutter stehen blieb.
Ich sah ihn verständnislos an.
„Für die Beisetzung“, sagte er, als sei damit alles erklärt.
Natürlich, meine Eltern mussten beerdigt werden. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ihr Sterben war für mich ein Prozess innerhalb eines von der Wirklichkeit losgelösten Raumes gewesen, dem weltenfernen Ort angemessen, an dem es sich vollzogen hatte. Ich streichelte meinem Vater über das Gesicht und schloss dabei die starren Augen. Dann ging ich um das Bett herum, an die Seite meiner Mutter, und streichelte auch sie zum Abschied. Der Fremde war verständnisvoll zurückgewichen.
Nachdem ich eine Weile neben dem Bett gestanden und an unser gemeinsames, zurückgezogenes, friedliches und zugleich bedrückend enges, quälendes, hoffnungsloses Leben gedacht hatte, an das Lachen und Weinen innerhalb der altersdunklen Mauern des Turmes, an das Licht des Meeres und die Finsternis des Waldes, legte mir der Fremde plötzlich eine Hand auf die Schulter. Ich schaute auf und sah in sein spitzes, vogelartiges Gesicht. Er nickte und sagte:
„Wir beginnen mit deinem Vater. Ich packe ihn unter den Schultern, und du nimmst die Beine.“ Schon hatte er den alten Mann zur Hälfte aus den fleckigen Laken gezogen. Damit er nicht ganz aus dem Bett rutschte, packte ich rasch die in einer alten, gestreiften Schlafanzugshose steckenden Beine und war entsetzt, als ich spürte, wie dünn sie waren. Bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, ging der Fremde bereits voran zur Tür. „Vorsicht auf der Treppe“, sagte er, als würde ich sie nicht kennen.
Wir trugen meinen Vater hinunter in den ersten Stock, in das Speisezimmer und durch es hindurch in die Küche. Erstaunt sah ich, dass die Falltür zum fensterlosen Gewölbe des Erdgeschosses weit offen stand. Von unten flackerte uns Fackelschein entgegen.
„Ich gehe voran“, sagte der Fremde und war schon halb in der Bodenöffnung verschwunden, als mir klar wurde, was er vorhatte.
„Sie können ihn doch nicht im Keller ...“ Weiter kam ich nicht, denn der Fremde zerrte an dem Leichnam, und wenn ich meinen Vater nicht fallen lassen wollte, musste ich dem Mann in glitzerndem Schwarz wohl oder übel folgen.
Wir tasteten uns auf der steilen Leiter nach unten, und mehrfach drohte ich von den Sprossen abzurutschen. Einmal musste ich mich mit einer Hand rasch an der Leiter festhalten. Dabei schwang das eine Bein meines Vaters nach unten. Entsetzt packte ich es, nachdem ich das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, und balancierte weiter in die zuckenden Schatten und das rötliche Fackellicht hinein.
Ich atmete auf, als wir endlich den Boden erreicht hatten. Mehr als vier Meter über uns klaffte die kleine Öffnung in der Decke, wie mit einem Faustschlag in das ansonsten makellos glatte, flache Gewölbe hineingetrieben. Der Fremde ließ mir keine Zeit, mich umzusehen, sondern ging auf eine Wand zu, vor der Regale mit spinnwebverklebten, staubigen Weinflaschen standen. Es war, als wolle er geradewegs in die Regale hineinlaufen. Erst als er kurz vor ihnen stand, hielt er inne, nahm eine der Flaschen heraus, die nicht weniger staubbedeckt war als die anderen und

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