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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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schon am ersten Morgen gesehen. Es ist ungeheuer windschief, und was mich sofort erstaunt hat, war die massive, neue Holztür, die aus einem ansonsten nur durch den Grad seines Verfalls bemerkenswerten Gebäude etwas Rätselhaftes und Erstaunliches macht. Und das Leuchten habe ich inzwischen gesehen – ob vor oder nach meiner Beschreibung in der Geschichte, weiß ich aber nicht mehr zu sagen. Die Rohre sind meine eigene Dreingabe – hoffe ich. In dem schrecklichen Nebel draußen ist kaum etwas zu sehen. Wenn man nichts sieht, wird man auf sich selbst zurückgeworfen. Auf die eigene Vergangenheit, auf die eigene Innenwelt.
Wie oft ich mir wünsche, du wärest gar nicht da . 
Dieser süßliche Geruch – wie von vermodernden Orchideen. Auf dem Balkon ist er genauso stark wie in meinem Zimmer.
Ich habe dich nie gewollt. Räum deine Spielsachen weg. Du zertrittst meine Pflanzen. Ich wünschte, ich könnte dich verschwinden lassen.
Der Nebel dringt durch die Balkontür, die einen Spaltbreit geöffnet ist. Er kräuselt sich, schlängelt sich, windet sich im Luftzug.
Ist schon Frühstückszeit? Oder ist noch Abend, oder ist Nacht? Der Nebel macht alles gleich. Als ich das letzte Mal gefrühstückt habe, hat eine Schlingpflanze, die ich vorher nicht bemerkt hatte, weil sie hinter mir wartete, meinen Stuhl umfasst. Als ich ihn vom Tisch abrücken wollte, ist es mir kaum gelungen.
Ich will nicht wieder hinuntergehen.
     
     
Alfred begab sich in den eleganten Aufenthaltsraum, der im gleichen Stockwerk wie der Frühstückssaal lag. Hinter den gerafften dunklen Blumenvorhängen schmiegte sich der Nebel an die Fenster. Vier bequem aussehende Polstersessel hatten sich um einen runden Tisch versammelt, auf dem einige Tageszeitungen lagen. An der Wand stand ein gut gefülltes Bücherregal. Albert ging durch den Raum, der nur wenig kleiner als der Frühstückssaal war, trat dann wieder auf den Korridor hinaus und lauschte.
Leises Pfeifen, Zischeln, Jammern. Ansonsten – nichts. Niemand. Er setzte sich in einen der Polstersessel und nahm sich eine Zeitung vor.
Sie wirkte fast obszön normal, war vom heutigen Tag, ein Eindringling. Er las, ohne etwas zu verstehen. Es hatte keinen Sinn. Also legte er die Zeitung weg, stand auf und betrachtete die Bücher. Sie waren alt – sehr alt. Er stöberte in ihnen herum. Die meisten hatten keine Titelblätter. Es schienen Romane und Erzählungssammlungen zu sein. Draußen klebte der Nebel wie ein Tintenfisch an den Scheiben.
     
     
Ich bin in den Salon hinuntergegangen – oder hinauf? Es ist nicht zu erkennen, in welchem Stockwerk er liegt, ob hoch oder niedrig, denn der Nebel draußen macht inzwischen jede Ortsbestimmung unmöglich. Die Zeitungen liegen hier, wie ich es gerade beschrieben habe. Ich nehme sie erst gar nicht in die Hand. Stattdessen widme ich mich den Büchern.
Romane und Erzählungen, aus der vorletzten Jahrhundertwende vermutlich. Die meisten ohne Titelblätter.
Nicht mehr da. Wegreißen, wegwerfen. Nein, Mama, bitte nicht. Du bist nicht mein Sohn. Ich will dich nicht mehr sehen . 
     
     
Aus einem der Bücher fiel ein Zettel zu Boden. Alfred hob ihn auf. „Hilfe“, stand in unbeholfenen Kinderbuchstaben darauf. Alfred betrachtete die Seiten, zwischen denen der Zettel gesteckt hatte. Es war eine Erzählung. - - -
„Als er die Thür mit der Nummer zehn öffnete, stockte ihm der Athem, und ihm war, als bleibe sein Herz stehen. Zunächst sah er nichts denn die ungeheuerlichsten Blumen und Pflanzen, die er je gewahrt. Keine Möbel waren zu erkennen, kein Fenster, sondern nur ein undurchdringlicher Dschungel. Doch das Jammern und Stöhnen und Ächzen, das er hier schon so oft vernommen, drang nun mit unverminderter Heftigkeit auf ihn ein. Die schrecklichen, allgegenwärtigen Rohre liefen zwischen den Stengeln und Blättern und Blüthenkelchen umher, manche waren geöffnet, und aus ihnen drangen die abscheulichsten Geräusche und Düfte. Und inmitten all dieses Irrsinns schwebte eine kleine Gestalt, durchdrungen und durchbohrt von den Rohren und den Pflanzen. Sie hatte die Augen in irrsinnigem Schmerze aufgerissen, und Säfte pulsierten unter ihrer durchscheinend gewordenen Haut. Sie war es, die jammerte und stöhnte. Und neben ihr erblühte eine Blume, deren Blätter und Stempel sich zu einem verzerrten Gesicht mit einer absonderlich hohen Frisur geformt hatten. Es war das boshafte und hämische Antlitz jener alten Dame, die …“
     
     
Hier bricht die Geschichte ab.

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