Spiel des Lebens 1
Panik erfüllte, sobald sich die Wände zu eng um sie zusammenschlossen. Was der Grund allerdings dafür war, wusste sie nicht. Und das machte ihr fast noch mehr Angst.
»Wir machen das mit dem Mittagessen auf Zuruf«, hatte ihr Vater gesagt, »ich melde mich, wenn ich in der City bin und du schaust dann, ob es klappt.«
So ähnlich vereinbarte er wahrscheinlich auch Termine mit seinen Geschäftspartnern. Ein Job, der richtig viel Geld brachte, aber auch zweihundertprozentige Aufmerksamkeit und Zeit erforderte. »Ich hab zwei Wohnsitze«, pflegte ihr Vater oft zu sagen, »der erste ist Notting Hill, der zweite ist British Airways.«
Emily und ihre Mutter hatten sich mit der Zeit damit arrangiert. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Aber manches Mal ertappte sich Emily doch bei dem Gedanken, dass es schön gewesen wäre, mit einem Vater aufzuwachsen, der öfter als nur an ein paar Tagen im Monat zu Hause war. Selbst wenn er mal in London war, bekam sie ihn kaum zu Gesicht.
Mittlerweile hatte Emily das Hauptgebäude wieder erreicht und lief die Treppen hinauf. Professor Kenny kam ihr entgegen, einen Haufen Papiere im Arm, und nickte ihr kurz zu. Sie hatte keine Ahnung, wieso er sie erkannte, aber vielleicht nickte er automatisch einfach jedem zu. Wobei er dann vermutlich viel zu tun gehabt hätte. Egal. Sie schaute auf die Uhr.
Sie hatte Hunger und wollte das Mittagessen nicht verpassen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Schon sah sie die Postfächer – und dann blieb sie wie angewurzelt stehen.
5
M anchmal gibt es triviale Dinge, die eine Erinnerung bei den Menschen auslösen. Die Erinnerung mag gut sein oder schlecht, in jedem Fall ist sie meist wichtig und hat sich daher mit brennenden Buchstaben in der Seele und dem Gedächtnis der jeweiligen Person eingebrannt.
Das Problem mit einigen von Emilys Erinnerungen war nur: So trivial sie auch waren, sie konnte sie nicht einordnen. Sie waren nur Fetzen von einem Gesamtbild, das sich ihr wieder und wieder entzog. Die Sterne, die Augen, die Wände, die sich auf sie zubewegten, sie waren wie Gespenster, die sofort verschwanden, wenn sie genauer hinschauen wollte.
Einer von diesen Erinnerungen war ein Luftballon.
Und ein Luftballon war mit einem Klebeband genau an Emilys Postfach befestigt.
Es war kein Zufall.
Sie konnte das Schild an dem Postfach erkennen. Emily Waters.
Daneben der Streifen Klebeband, die Schnur und der Luftballon, der die Schnur nach oben zog.
Er muss mit Gas gefüllt sein, dachte Emily automatisch.
Ihr Herz klopfte wieder wie in der Nacht zuvor, als sie glaubte, jemand würde sich über sie beugen und sie anblicken. Hastig zog sie die Mappe mit dem Logo des King’s College darauf aus dem Postfach.
Reiß dich zusammen , dachte sie, was ist denn jetzt an einem Luftballon so schlimm? Bestimmt ist das irgendein dummer Scherz.
Vielleicht hatten Julia und Ryan diesen Blödsinn zusammen ausgeheckt! Es war ihr sowieso komisch vorgekommen, dass Julia allein an den Postfächern gewesen war – sie hatten eigentlich verabredet, dass sie die ersten Tage auf dem Campus zusammen verbringen wollten.
Aber Julia war nun mal die Einzige hier, die von Emilys unerklärlicher Panik vor Luftballons wusste. Schon oft hatte sie sich auf nette Art lustig darüber gemacht. Andererseits: So einen fiesen Scherz würde sie sich nicht erlauben. Oder?
Emilys rationaler Geist, der ihr alarmiertes Unterbewusstsein beruhigen wollte, war nicht wirklich erfolgreich.
Um sich abzulenken, öffnete sie die Mappe, fand einige Stundenpläne, Kursbeschreibungen, ein maschinell unterschriebenes Grußwort des Präsidenten des King’s College, einen persönlich unterschriebenen Brief von Professor Kenny und schließlich den Fragebogen für das Gespräch mit dem Tutor. Sie ließ zunächst den Luftballon hängen, wo er war – sollte sie etwa mit einem Luftballon durch die Gegend laufen? Und wo sollte sie ihn auch sonst hintun? –, entschied sich dann aber, das Klebeband, das die Schnur befestigte, weg von ihrem Namen irgendwo an die Wand zu kleben, so als würde sie das vor irgendeinem bösen Einfluss schützen.
Der Faden ist woanders, aber der Ballon ist immer noch da, meldete sich eine Stimme in ihrem Inneren. Emily versuchte, sie zu ignorieren. Sie drehte sich auf dem Absatz um und schob die Papiere wieder in die Mappe. Doch irgendetwas hakte, so als wäre noch etwas in der Mappe. Sie zog die Papiere wieder heraus und bemerkte ein zerknicktes Foto.
Da war es
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