Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
war eiskalte Berechnung. Und diese verdammten rhetorischen Fragen. Das ganze war einfach zum Kotzen. Aber niemand kotzte.
Das war also der Mann, mit dem er zusammen gegen die Atomlobby gekämpft hatte. Das war der Mann, der einst den Widerstand gegen den Stationierungsbeschluss angeführt hatte. Es war unfassbar. Chris war zu einem Heuchler geworden. Er benutzte seine Fähigkeiten zu reden, seine Fähigkeiten zur politischen Analyse nur noch dazu, seine Partei zu belügen, seine Macht und seine Kohle zu sichern. Alles, was Chris sagte, war Lüge. Wie weit war dieser Mann abgestiegen? Zusammen hatten sie gekämpft gegen einen totalitären Atomstaat, gegen die lückenlose Überwachung der Bürger, gegen die Verschärfung von Asyl- und Einwanderungsgesetzen, für eine freie multikulturelle Gesellschaft – und jetzt? Keine Rede war mehr davon! Im Namen der Moral wurde hier jede Moral über Bord geworfen. Und niemand schien das zu bemerken, niemand, im Gegenteil, die Delegierten hinter Mark standen plötzlich auf, und heftiger Applaus brandete dem Minister entgegen. Vor allem der Fraktionsvorstand auf dem Podium applaudierte enthusiastisch. Klar, dachte Mark bitter, die haben am meisten zu verlieren. Und auch sie sind nicht bereit, ihre gut dotierten Posten aufzugeben und für ihre Überzeugungen einzustehen. Sie sind längst allesamt zu Heuchlern geworden.
Als Chris die Arme leger nach oben streckte und die Standing Ovations mit einem selbstzufriedenen Lächeln entgegennahm, stand Mark auf und trat nach vorne. Im Blitzlichtgewitter der Fotografen verzerrte sich für ihn das Gesicht des Ministers zur Fratze. Für diesen Mann hatte er so viel auf sich genommen. Es war unerträglich. Wie in Trance brachte er seine Waffe in Anschlag und begann, in schneller Folge zu feuern. Endlich, er fühlte eine ungeheuere Erleichterung und Erschöpfung.
* * *
Seit dem Auftritt Christian Schneiders hatte er Mark nicht mehr aus den Augen gelassen.
Nachdem der Minister mit seiner Rede begonnen hatte, hatten sich die Delegierten, die zu seiner Begrüßung aufgestanden waren, wieder gesetzt und in ihren Stühlen zurückgelehnt. Auch Mark hatte sich gesetzt, war aber angespannt und mit vollkommen aufrechtem Oberkörper an der Vorderkante seines Stuhls sitzen geblieben. Und je weiter die Rede des Ministers voranschritt, desto unruhiger hatte sich Mark auf seinem Stuhl hin und her bewegt, wobei er seine Haare immer wieder mit beiden Händen manisch nach hinten strich.
Als die Rede des Innenministers beendet war und enthusiastischer Jubel unter den Delegierten ausbrach, wusste er, dass jetzt der Augenblick der Entscheidung gekommen war. Er spürte instinktiv, dass Mark im der nächsten Sekunde handeln würde, und griff nach seinen beiden Pistolen.
Sein Timing stimmte exakt. Fast synchron mit Mark brachte er seine beiden Waffen in Anschlag. Und als der Minister unter der Wucht der Einschläge von Marks Kugeln erbebte und, ohne einen Laut von sich zu geben, hinter dem Rednerpult zusammenbrach, eröffnete er das Feuer auf die Personenschützer des Innenministers und die beiden Agenten auf der Bühne.
Obwohl sie ausgesprochen schnell auf Marks Schüsse reagierten, hatten sie keine Chance. Bevor sie ihre Waffen auf Mark abfeuern konnten, hatten die tödlichen Projektile aus seinen beiden Heckler & Koch Pistolen in ihren Körpern eingeschlagen.
Ohne einen Wimpernschlag zu zögern, drehte er sich sofort, nachdem er die Schüsse abgefeuert hatte, in Richtung Publikum und suchte nach dem Agenten, der unter den Delegierten positioniert war. Er kam eine Zehntelsekunde zu spät. Der Agent feuerte bereits seine Waffe ab. Er sah das Mündungsfeuer im Dunkel des Saals aufblitzen. Aber just im selben Moment geschah etwas Unvorhergesehenes. Der Kameramann, der Marks Attentat sprachlos mitverfolgt hatte, stürzte sich auf den jungen Mann und riss ihn zu Boden, um ihn zu überwältigen. Die Kugel des Agenten verfehlte ihr Ziel und traf einen der Delegierten in den Oberarm. Vor Schmerzen brüllend stürzte der Mann sich durch die Zuschauer in Richtung Ausgang.
Jetzt brach ein unbeschreibliches Chaos im Saal los. Die Delegierten sprangen auf und rannten wild durcheinander, um sich in Sicherheit zu bringen. Personenschützer und Agenten, soweit sie noch lebten, versuchten sich einen Weg durch die hysterische Menge Richtung Mark zu bahnen. Herbeigeeilte Rettungssanitäter beugten sich über den Minister und versuchten, sein Leben zu retten.
Er schob seine
Weitere Kostenlose Bücher