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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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begannen zu applaudieren und mit den Füßen auf den Boden zu trampeln. Im Laufschritt und voller Dynamik tauchte Chris Schneider in der Tiefe der Bühne auf und ging schnellen Schrittes und nach allen Seiten winkend zum Rednerpult. Dort verharrte er und wartete mit einem stillen Lächeln, bis der Applaus verebbte. Sein dunkler Anzug aus feinem Tuch glänzte im weichen Licht der Scheinwerfer. Der Kragen des hellen Hemds darunter war bis zum zweiten Knopf offen und bildete einen legeren Kontrast zum eleganten Jackett.
    Fast unmerklich wurde das Licht im Saal nach unten gezogen. Im Publikum trat vollkommene Stille ein.

* * *
    Mark starrte den Minister mit großen Augen an. Als Christian Schneider zu seiner Rede ansetzte, lief ihm ein leichter Schauer über den Rücken. Er konnte sich der Magie des Augenblicks nicht vollständig entziehen.
    »Ich bin jetzt Minister, liebe Freunde«, begann Chris mit einem leicht provokanten Unterton und ließ eine lange Pause folgen, ehe er weiter sprach. »Seit zwei Jahren bin ich jetzt Innenminister dieser Koalition. Und das passt vielen von euch nicht, ich weiß, ich habe ja Ohren und höre, was so gesprochen wird. Als Innenminister bin ich für die innere Sicherheit dieses Landes verantwortlich. Und diese Verantwortung ist nicht einfach. Glaubt mir, ich mache mir das nicht leicht.«
    Im Saal kam ein missbilligendes Raunen auf. Chris wartete, bis es wieder abgeebbt war, und fuhr erst dann betont ruhig mit seiner Rede fort.
    »Ich mache es mir nicht leicht. Vieles, was ich mittragen muss, was ich mit entscheiden muss, gefällt mir nicht. Das ist doch klar, liebe Freunde. Aber so ist Politik nun mal. Früher hab ich Steine geworfen, ja, Randale gemacht. Und viele von euch hätten es gern, wenn das wieder so wäre. Aber, liebe Freunde, was bringt das. Ich frage euch, was bringt das? Und ich glaube, niemand von euch kann mir da eine Antwort geben, wenn er ehrlich ist. Die Alternative ist doch die: Entweder wir gestalten Politik mit und verwirklichen einen Teil unserer Ziele oder wir gehen zurück in die Bedeutungslosigkeit.«
    Im Saal regte sich wieder Unmut. Chris ging auch diesmal nicht darauf ein, sondern fuhr nach einem langen Blick ins Publikum fort.
    »Wollt ihr das wirklich? Ist das euer Ernst? Einige von euch werfen mir hinter vorgehaltener Hand vor, die Sache zu verraten, aber, liebe Freunde, ich verrate die Sache nicht. Ich kämpfe weiter für die Sache und zwar mehr als je zuvor. Und Politik heißt nun mal, Kompromisse machen, Demokratie heißt, Kompromisse machen. Und wer nicht bereit ist, Kompromisse zu machen, erreicht nichts, gar nichts. Und da finde ich es besser, wenn diese Innenpolitik zumindest in Teilen unsere Handschrift trägt. Was wäre denn ohne uns? Ohne uns hätten wir heute eine Telefonüberwachung, die ohne konkreten Verdacht veranlasst werden kann. Aber weil wir mitregieren und Kompromisse mittragen, gibt es die Telfonüberwachung nur, wenn ein ganz konkreter Verdacht vorliegt. Das ist doch Fakt. Und jetzt werft ihr mir vor, die Sache zu verraten! Das ist doch wohl nicht euer Ernst. Was ihr wollt, ist Verzicht auf Veränderung, Verzicht, zu gestalten. Haben wir dafür so lange gekämpft, damit wir jetzt verzichten? Damit wir sagen, ‚tut uns leid, aber wir wollen nicht mitgestalten, wir wollen keine Politik mitbestimmen?’ Liebe Freunde, ich will das nicht. Ich will unsere Sache verwirklichen. Ich weiß, das ist ein langer Weg, wir können die Dinge nicht so schnell verändern in unserem Land. Aber ich bin bereit, diesen langen Weg zu gehen, Kompromisse zu machen, Geduld zu haben, weil ich unsere Ideen soweit als möglich verwirklichen will. Und wenn ihr das nicht wollt, ja, dann bin ich wirklich der falsche Mann für euch. Denn ich will die Macht, die uns die Bürger dieses Landes gegeben haben, nutzen, um möglichst viel von unserem Parteiprogramm umzusetzen.«
    Mark war empört. Mit jedem weiteren Wort, das Chris sagte, steigerte sich diese Empörung. Er konnte die unerträgliche Heuchelei, die aus jedem Wort heraus triefte, nicht mehr ertragen. Warum stand keiner von den Delegierten auf, warum reagierte niemand im Saal auf diese Heuchelei? Hörte denn keiner, dass Chris nur seine Macht im Kopf hatte und sonst nichts. Er wollte um jeden Preis seine Macht erhalten, die Pfründe sichern, die er sich erkämpft hatte. Diese Rede war purer Schleim, ekelhaft, wie Chris alle Register zog, um Eindruck zu machen. Jedes Wort war kalkuliert, jede Geste, jede Pause

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