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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernwald Schneider
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hohen Kuppel der Bahnhofshalle eingenistet hatte.
    Judith war in dem Gewühl nicht zu entdecken. Ich machte kehrt und ging in die Vorhalle zurück, nahm meinen ganzen Mut zusammen und durchquerte zügig die Halle in Richtung des Ganges, wo sich die Schließfächer befanden. Dabei versuchte ich, nicht einmal an den Koffer zu denken.
    Ich hatte mein Ziel nicht ganz erreicht, da sah ich mich unversehens einem fliegenden Händler gegenüber, einem kleinen Jungen, der meinen Weg kreuzte und mich ansprach, um mir etwas zu verkaufen. Schon wollte ich ihn zur Seite schubsen, da besann ich mich anders und blieb stehen. Ich nahm ihm eine Packung Virginia ab, und während er dabei war, den erhaltenen Geldschein zu wechseln, öffnete ich die Schachtel und steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Dann ließ ich mir von ihm Feuer geben.
    Der Junge ging weiter, ich stand da und zog an meiner Zigarette – mit einem Mal ganz entspannt und in dem Bewusstsein, dass nur ein Raucher sich nicht allein dadurch verdächtig machte, dass er untätig in einer Halle herumstand.
    Ich würde meinen Zug nicht mehr erreichen, jedenfalls nicht mit Koffer, wozu also die ganze Eile? Das war nicht mein Zug, das war nicht meine Route; da dämmerte mir plötzlich, dass das Schicksal ja vielleicht einen anderen Weg für mich vorgesehen hatte, dass es ein Fehler sein könnte, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Rauch deine Zigarette, hol deinen Koffer und dann hau schnell von hier ab, raunte ich mir in Gedanken selbst zu.
    Doch wohin? Erst jetzt, wo ich ruhig und halbwegs gelassen dastand und rauchte, nahm ich meine Umgebung einigermaßen deutlich wahr. Da waren die Leute mit den Koffern, aber auch die anderen Gestalten waren unterwegs, denen man auf Bahnhöfen seltsamerweise so oft begegnete: Leute, die gar nicht aussahen, als ob sie verreisen wollten, bei denen nicht zu erkennen war, was sie hier verloren hatten. Sie warteten auf niemanden, stiegen in keinen Zug, kamen weder an noch fuhren sie ab. Sie waren einfach nur da, wie eine Armee von Statisten, die der Bahnhof selbst zu seinem Betrieb produzierte. So gesehen schien alles ganz normal zu sein, wenngleich mir klar war, dass der Anschein äußerer Normalität gehörig täuschte.
    Ich warf die Zigarette auf den Boden, zertrat die Glut. Ich richtete den Blick hinüber zu den Schließfächern und sah einen älteren Mann, der gerade seinen Koffer aufnahm, nachdem er ihn offenbar eben einem der Schließfächer entnommen hatte. Er setzte sich in Bewegung, und eilte auf eine der Ausgangstüren in zehn Metern Entfernung zu. Fast hatte ich den Blick wieder abgewandt, da registrierte ich blitzartig, wie im selben Moment, da der Mann eine der Türen aufschob, aus dem Nichts zwei Gestalten auf ihn zugeschossen kamen, um ihn sogleich in ihre Mitte zu nehmen. Nie würde ich die schreckliche Blässe vergessen, die die Gesichtszüge des armen Alten von einem Augenblick zum anderen entstellten, so als wüsste er in diesem Moment bereits, was ihm von seinen Häschern blühte.
    Noch immer starrte ich auf die Türen, hinter denen die Männer mit ihrem Opfer verschwunden waren. Türen, die sich öffneten und wieder schlossen, Menschen, die hereinströmten, und Menschen, die diesen unwirklichen Ort verließen. Beim Gedanken daran, mir meinen Koffer holen zu müssen, drohten meine Knie den Dienst zu versagen.
    Ich betrachtete eine Weile das Spiel der Türen und stockte, als ich plötzlich zwei Uniformierte die Halle betreten sah – der eine war der Drahtige, der andere sein Schatten, der Kräftige.
    Ich senkte den Blick und bewegte mich nicht. Sie waren mir also doch gefolgt, hatten mich aber auf meinem Umweg über das Excelsior aus den Augen verloren – die beiden waren nicht so clever, wie sie taten! Du bist nicht mehr da, flüsterte ich mir im Stillen zu und nahm mir vor, mich unsichtbar zu machen. Dieses Mal, beschloss ich, würde ich ihnen nicht in die Fänge gehen! Ich hörte das Geräusch einfahrender Züge, Stahl, kreischendes Metall. Langsam, ohne einen letzten Blick zu riskieren, der ihre Aufmerksamkeit hätte auf mich lenken können, drehte ich mich zur Seite und reihte mich in einen Strom von Menschen ein, die dem Hauptausgang entgegengingen. Ohne darauf zu achten, was hinter mir geschah, stellte ich mich getreu meinem Vorsatz, mich in keiner Weise auffällig zu verhalten, an einem Zeitschriftenstand an, um eine Abendzeitung zu kaufen.
    Mit der Zeitung in Händen wandte ich mich erneut in die

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