Spittelmarkt
nicht vorstellen zu können, dass der kalte Gegenwind die Richtung einmal wieder ändern wird«, erwiderte er und blickte mich an, als rechnete er fest damit, dass es eines Tages anders kommen würde.
»Rufen Sie die beiden Schläger bitte nicht wieder herein!«, bat ich ihn. »Die Kerle sind mir übel gesinnt. Sie würden nicht von mir ablassen, ganz egal, was Sie ihnen befehlen.«
Der Kommissar nickte. »Ich gebe Ihnen zwei andere Leute, die Sie hinausbegleiten. Und noch etwas: Ich kann Ihren Namen nicht aus meinen Unterlagen entfernen, werde aber vermerken, dass ich Sie für unverdächtig halte. Wenn Sie Freunde haben, die über Einfluss verfügen, wäre gleichwohl der Zeitpunkt gekommen, sich einmal an diese zu wenden, um Weiteres zu verhindern. Leben Sie wohl!«
Er machte die Tür auf und rief zwei Uniformierte, die kurz darauf das Zimmer betraten. »Bringt ihn hinaus! Er kann nach Hause gehen.«
Die beiden nahmen mich in die Mitte und schoben mich in den Flur.
Der Drahtige und der Kräftige, mit denen ich schon gerechnet hatte, waren nicht zu sehen.
Überall lagen Feuerwehrschläuche. Ich sah, dass weiter hinten der Plenarsaal des Reichstags bis zur Decke hinauf in Flammen stand.
Wir gingen zügig durch die Wandelhalle, in der es nun von Feuerwehrleuten und anderen Menschen wimmelte, vor allem von Zivilisten, von denen sicherlich einige, wenn nicht gar die meisten der neuen ›Geheimen Staatspolizei‹ angehörten, von deren bevorstehender Gründung in den letzten Tagen zu hören gewesen war.
Wir hatten die Treppe noch nicht erreicht, als es plötzlich Unruhe und Bewegung unter den Leuten gab.
»Der Führer!«, rief einer der Uniformierten, daraufhin blieben wir auf der Stelle stehen.
Der erste, den ich erblickte, war der dicke Göring, Innenminister von Preußen und zugleich amtierender Reichstagspräsident.
»Das ist der Beginn des kommunistischen Aufstands«, übertönte die schnarrende Stimme des Reichsmarschalls alle anderen Geräusche, »sie werden jetzt losschlagen. Es darf keine Minute versäumt werden.«
Er hatte es zu dem Mann in Trenchcoat und Schlapphut gesagt, der in diesem Augenblick einen Schritt vortrat und dadurch in ganzer Person sichtbar wurde. Es war der Mann, der sich seit ein paar Wochen Kanzler des deutschen Reiches nennen durfte.
Hitler stieg über ein paar Feuerwehrschläuche hinweg, wandte sich dann an die Leute, die ihn umstanden, während sein Gesicht flammend rot geworden war.
»Es gibt jetzt kein Erbarmen mehr!«, schrie er in dieser scheinbar unbeherrschten Weise, von der man nicht wusste, ob sie echte Entrüstung oder lediglich Schauspielerei war, »wer sich uns in den Weg stellt, der wird jetzt niedergemacht! Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis mehr haben! Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten in Verbindung steht. Auch für Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr!«
»Ich habe bereits Anweisung gegeben, die Listen noch in dieser Nacht abzuarbeiten«, sagte der dicke Reichsmarschall, »die Leute sind in Marsch gesetzt. Auch die Bahnhöfe und die Grenzen werden kontrolliert. Alle Fluchtmöglichkeiten sind abgeschnitten.«
»Besser, wir verschwinden«, raunte mein Nachbar zur Linken leise seinem Kollegen zu. Nun ging es schnellen Schrittes die Treppe hinunter, der eine Polizist zog die Seitentür auf und der andere schubste mich auf die Straße hinaus.
Mehrere Feuerwehrzüge waren inzwischen vor dem Gebäude eingetroffen, und mittendrin sah ich die schwere schwarze Mercedes-Limousine, die wohl die neue Politprominenz herbefördert hatte. Der Fahrer des Reichskanzlers stand neben dem Wagen. Er trug eine Schirmmütze und hatte etwas von einem der Gangster, die man neuerdings in den amerikanischen Kinofilmen sah. Einige der New Yorker Freunde von Mr. Shannon hatten so ausgesehen. Dabei dachte ich mir, dass ich einen Mann wie Shannon jetzt gern an meiner Seite gehabt hätte.
Doch ich war allein und das Einzige, das mich antrieb, war der Gedanke an meine Flucht.
25
Obwohl es ein Wettlauf mit der Zeit werden würde, hatte ich es nicht sonderlich eilig, zum Anhalter Bahnhof zu kommen. Ich hatte Angst. Angst davor, zu fliehen – und Angst davor, zu bleiben. Mein Vorhaben erschien inzwischen in einem wenig günstigen Licht, ahnte ich doch, dass ich meine Flucht
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