Splitterfasernackt
immer noch zu viel – genau wie vorher. Außerdem kann ich auf einmal an nichts anderes mehr denken als an Essen. In den Nächten schrecke ich schweißgebadet aus meinen Träumen, weil ich mich umgeben von knusprigen Käsetoasts, zuckersüßen Sahnetorten und Zimtschnecken fühle.
Meine Stimmung wird immer düsterer und schlechter. In meinem Kopf herrscht ein bedrohliches Dauerbrummen, und irgendwann verlerne ich die Kunst des Einschlafens. Meine Noten werden dagegen immer besser und besser, ich schreibe eine Eins nach der nächsten; eine Zwei zu bekommen fühlt sich schon schlecht an, aber trotzdem bin ich mir sicher, nicht gut genug zu sein. Von Tag zu Tag hasse ich die Schule mehr, sie langweilt mich, meine Klassenkameraden sind mir fremd, der Stoff zu unbedeutend. Ich lerne kaum, eigentlich nur während der Schulstunden – in den Pausen mache ich meine Hausaufgaben, damit ich sie nicht zu Hause machen muss, und frühestens zwei Tage vor einer Klausur fange ich an zu lernen, manchmal auch gar nicht. Aber der Druck in mir lässt nicht nach. Meine Eltern lieben mich immer noch nicht. Dabei bin ich so gut in der Schule, dass sie doch wenigstens ein bisschen stolz auf mich sein könnten. Ich habe panische Angst davor, was passiert, wenn ich plötzlich wieder nur Zweien oder Dreien bekomme, bestimmt verachten sie mich dann endgültig. Ich denke darüber nach, vielleicht doch etwas mehr für die Schule zu machen, den ganzen Tag zu lernen und meine Schulbücher alle auswendig zu lernen. Aber das schaffe ich einfach nicht. Allein der Gedanke an die Schule verursacht in mir schon Übelkeit, keine Sekunde länger als nötig will ich dort verbringen. Aus einem unerklärlichen Grund habe ich schreckliche Angst davor, nicht genug Zeit zu haben. Zeit für mich. Zeit, in der ich nichts tun muss. Ich fiebere den Wochenenden entgegen, warte auf die Schulferien und versuche jede Sekunde auszukosten, in denen meine Eltern nicht zu Hause sind und ich atmen kann.
Mit fünfzehn Jahren bin ich schließlich bereit, alles zu tun, um nicht mehr in die Schule gehen zu müssen und so weit wie möglich von meinen Eltern wegzukommen. Ich sehe vier Optionen: erstens Selbstmord, zweitens Straßenstrich, drittens Kinderheim, viertens Abdrehen und Klapse.
Vor Nummer eins habe ich zu viel Angst. Für Nummer zwei fehlt mir die Connection. Bei Nummer drei weiß ich nicht, wie ich einen Platz bekommen soll. Also bleibt nur die vierte Möglichkeit.
Ich gehe zu einem Psychologen und sage ihm, dass ich sterbe. Ich erzähle von meinen Essstörungen, gucke verdammt leidend, rede davon, aus dem nahegelegensten Fenster zu springen, und stelle einen Haufen Anträge bei meiner Krankenkasse. Meine Mutter rastet total aus und kreischt mich an, dass ich ein verlogenes Biest sei und mir meine Probleme nur einbilden würde.
Mein Vater hingegen bleibt ziemlich ruhig. Natürlich. Er bleibt ja immer ruhig. Er kann sich in aller Ruhe sein Honigbrötchen schmieren, während ich danebensitze und zwei Packungen Aspirin am Stück einwerfe.
»Wenn ich keinen Platz in der Klinik bekomme, breche ich in eine Apotheke ein, klaue zehn Tüten voll Schlaftabletten, schlucke sie alle auf einmal und sterbe«, das verspreche ich mir, um mein hechelnd klopfendes Herz zu beruhigen.
Dann kommt endlich der Brief. Ich reiße ihn auf.
»Klinikaufenthalt genehmigt«, steht da.
Und mein Leben geht weiter.
Im Sommer, nachdem ich wochenlang kaum zur Schule gegangen bin, weil ich ständig krank war oder lieber auf einer Parkbank herumgelungert bin, als mich fortzubilden, setze ich mich neben meinen Koffer ins Auto meiner Eltern und verabschiede mich von meinem beschissenen Leben. Hinter dicken Klinikmauern, mit weißen Wänden und weißen Bettbezügen, mit festen Regeln, festen Mahlzeiten, nur drei Stunden Schule und umgeben von lauter anderen Bekloppten müsste ich mich doch eigentlich geborgen fühlen.
Meine Mutter spricht während der ganzen Fahrt kein einziges Wort mit mir, dafür wirft sie mir in regelmäßigen Abständen vorwurfsvolle Blicke über den Rückspiegel zu. Ich gucke aus dem Fenster und tue so, als würde es mich nicht interessieren, als wüsste ich nicht einmal, wie man »verletzt sein« überhaupt buchstabiert.
Mein Vater fährt. Das kann er gut.
In der Klinik riecht es nach sterilem Kindergarten, aber es toben keine fröhlichen Kinder herum.
Nach dem Einführungsgespräch mit dem zuständigen Psychologen verabschieden sich meine Eltern von mir. Das
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