Splitterfasernackt
als hätte ich die Chance, noch alles zu verändern.
Aber die Zeit geht weiter. Vorwärts.
Das ist die einzige Richtung, die sie kennt.
Und wir alle müssen ihr folgen.
Mit elf Jahren fange ich an, die Tage zu zählen, bis ich endlich achtzehn werde, die Schule hinter mir habe und ausziehen kann. Ich habe Brüste, große weiche Brüste, die hin und her wackeln und beim Sport wild durch die Gegend hüpfen. Kein anderes Mädchen hat schon so früh solche Brüste. Die Jungen gucken mich an, und alles ist noch schrecklicher als vorher. Ich bin das erste Mädchen in meiner Klasse, das ihre Periode bekommt. Die Jungen streifen mich im Vorbeigehen mit ihren Armen und reißen Witze. Die Mädchen tuscheln und wollen wissen, wie es sich anfühlt, ein Tampon zu benutzen.
Wenn man bedenkt, dass ich etwa die Hälfte des Tages damit beschäftigt bin, den Stimmen in meinem Kopf zu sagen, dass sie ihre Klappe halten sollen, weil ich daran glauben muss, dass alles wieder gut werden wird – wenn man das berücksichtigt, dann halte ich mich eigentlich ganz gut. Niemand bemerkt den Kampf, der in mir tobt, und niemand weiß, was für eine schreckliche Angst ich davor habe, eines Tages einfach spurlos verschwunden zu sein, weil
er
immer noch bei mir im Haus wohnt. Und ganz egal, wie leise, ganz egal, wie schnell ich durch das Treppenhaus husche, manchmal erwischt
er
mich doch.
»Ich will nicht irgendwo im Wald verscharrt enden und erst Jahre später entdeckt werden, von spielenden Kindern, die nur noch ein paar Knochen und Zähne von mir vorfinden«, flüstere ich jeden Abend vor dem Einschlafen in die Dunkelheit, in der mich keiner hören kann.
Ich setze Tag für Tag eine neue Maske auf, bete, dass ich nicht schwanger werde, und ritze mir weiterhin Striche in die Haut, damit ich nie vergesse.
Dann ist
er
plötzlich weg.
Er
verschwindet aus meinem Leben, als hätte es
ihn
nie gegeben.
Er
zieht weg, und ich stehe vor seiner leeren Wohnung und warte darauf, dass mein Körper herauskommt, damit wir wieder zusammen sein können. Ich warte und warte.
Zwei Stunden lang. Jeden Tag. Einen ganzen Monat lang. Und an den Wochenenden sogar vier Stunden täglich. Meine Eltern denken, ich sei draußen im Park, um zu spielen. Aber ich hasse Klettergerüste und Basketballplätze. Ich habe längst aufgehört, Fangen zu spielen, ich wurde schon viel zu oft geschnappt. Stattdessen stehe ich lieber da und warte. Und warte.
Und warte.
Wenn jemand kommt, verstecke ich mich schnell im Hof oder im Keller. Ich lausche auf die verklingenden Schritte, die zufallenden Türen, auf das Ticken meiner Armbanduhr. Ich presse mein Ohr ganz eng an die verbotene Wohnungstür, um etwas zu hören.
»Ich gehe nicht ohne dich«, flüstere ich so leise wie möglich durch das Schlüsselloch zu dem Körper. Ich versuche meiner Stimme Nachdruck zu verleihen, denn ich muss mir unbedingt glauben: »Ich warte auf dich! Ich warte, bis du wieder rauskommst. Versprochen!«
Aber natürlich warte ich vergebens.
Dann wird die Wohnung neu vermietet. Eine Frau mit einer Violine zieht dort ein. Sie sieht nett aus und trägt immer einen selbstgestrickten Pullover.
»Hat hier früher einmal ein Freund oder eine Freundin von dir gewohnt?«, fragt die Violinenfrau mich eines Tages. Sie hält in der einen Hand ein Buch mit einem grünen Einband und in der anderen eine Einkaufstasche, aus der ein paar Bananen herausgucken, und erwischt mich dabei, wie ich in Gedanken versunken auf den Treppenstufen sitze und ihre Wohnungstür anstarre.
Ich schüttele den Kopf.
»Geht es dir nicht gut?«, fragt die Violinenfrau freundlich und blickt mich etwas besorgt an.
Ich schüttele erneut den Kopf.
Die Violinenfrau stellt ihre Einkaufstasche ab, um die Wohnungstür aufzuschließen.
»Wie heißt du denn?«, fragt sie mich währenddessen.
Ich antworte ihr nicht, blicke nur stumm auf den Türspalt, der sich gerade geöffnet hat, hinein in
seine
Wohnung; die Wohnung, die jetzt der Violinenfrau gehört. Die Wände sind neu gestrichen, apricotfarben mit hellen Tupfern, der Fußboden im Flur ist mit weißen Fliesen ausgelegt, und ein leichter Vanillekerzenduft steigt mir in die Nase.
»Ich heiße Clara«, sagt da die Frau, nimmt eine Banane aus ihrer Tasche und hält sie mir hin. »Magst du auch so gerne Bananen? Ich kann einfach nicht genug davon bekommen, besonders im Spätsommer. Die sind ganz frisch aus dem Bioladen um die Ecke. Nimm nur.«
Ich nehme die Banane entgegen. »Danke«,
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