Stadtlust - vom Glueck, in der Großstadt zu leben
plagen. Auch Hausärztin und Zahnarzt sind im Kiez. Ebenso Döner-Imbiss und die kleine spanische Bar, in der zum Feierabend die Nachbarn auf ein Glas Wein verhocken. In die Eisdiele daneben lade ich regelmäßig mein Patenkind ein. Oder wir gehen in den Park – eine von 2500 öffentlichen Grünanlagen Berlins – und füttern die Kamele im Streichelzoo. Apotheke? Wein? Schokoeis? Kamele? In Datschendorf kann man davon nur träumen.
Der Journalist Axel Brüggemann ist nach Jahren in der Großstadt zurück in das Dorf seiner Kindheit gezogen. Über sein neues Leben hat er ein ehrliches Buch geschrieben, es heißt Landfrust . Brüggemann schildert den Niedergang der dörflichen Strukturen, er schreibt ohne Häme vom »Gruselroman«, als der das Landleben nur noch zu vermitteln sei, und konstatiert: »Dieses Land aus der Landlust – das geht gerade vor die Hunde!«
Während der Geist des Guten in der deutschen Provinz nur noch spuke, so Brüggemann, »feiert er ausgerechnet in den Metropolen seine Auferstehung. Die Großstädter bauen sich ihre eigenen intimen City-Villages, und so sind die Metropolen zu den vielleicht letzten Orten geworden, an denen das deutsche Landleben noch intakt ist.«
Das ideale Dorf hat er gefunden, mit Tante-Emma-Läden, Dorfkneipen und netten Nachbarn. Es heißt »Schöneberg« – und liegt mitten in Berlin. Es könnte genauso gut Münchens Glockenbachviertel oder Hamburgs Altona sein. Rainer Metzger, Professor für Kunstgeschichte in Karlsruhe, schreibt in seinem Buch Swinging London über diesen »Tribalismus«, die »Vorstellung von Aufgehobensein«, ohne die es keine Metropole gibt. »Metropolen, so könnte man sagen, brauchen Villages, und was wäre London ohne die Idee von Vierteln, Stadtteilen oder Nachbarschaften, die eine Zugehörigkeit verbürgen.« Dasselbe gilt für Manhattans Greenwich Village oder Roms Monti-Viertel. Diese Innenstadtquartiere vereinen das Positive des Dörflichen mit den Vorteilen der Großstadt. Stellen also das Gegenteil der Speckgürtel- und suburbanen Besiedlungen dar: Diese sind weder draußen in der Natur noch in der Stadt.
Würden alle achtzig Millionen Menschen in Deutschland ihrem Bedürfnis nach eigenen vier Wänden mit Rasen drum herum nachgeben, unser Land wäre eine flächendeckende Vorstadtsiedlung. Kein Quadratmeter Natur wäre noch frei. Was für eine ökologische Schnapsidee, diese Wohnform auch noch mit Pendlerpauschale und Eigenheimzulage zu fördern.
Der US-amerikanische Architekturkritiker, Philosoph und Soziologe Lewis Mumford nannte Anfang des 20. Jahrhunderts die Stadt die »kostbarste Erfindung der Zivilisation, die als Vermittlerin von Kultur nur hinter der Sprache zurücksteht«. Hundert Jahre später erklärt Harvard-Professor Edward Glaeser in seinem erfolgreichen Buch Triumph of the City : Städte machen uns reicher, smarter, grüner, gesünder und glücklicher. Nebenbei bemerkt der Wissenschaftler auch: Städte sind »fun places«. Wohl wahr! Hier tobt das Leben, und wenn wir das wollen, sind wir mittendrin. Hat die Landlust-Fraktion in ihrer Begeisterung für handgetöpferte Blumenkästen und schmiedeeiserne Spaten all das vergessen? Stadtluft macht frei! In den Städten wurde alles gedacht und geschaffen, was uns heute ausmacht. Demokratie, Bürgerrechte, Wahlfreiheit. Computer, Oper, Biosupermärkte.
Seit 2008 wohnen global betrachtet mehr Menschen in der Stadt als auf dem Dorf, erstmals seit der Geschichte der Menschheit. Sie wollen alle daran teilhaben. Die Umzugswagen fahren Richtung Großstadt, deutschlandweit, europaweit, weltweit. Manche der modernen Nomaden hat die Not fortgetrieben, andere flüchten schlicht vor der sozialen Monotonie, vor den immer selben Gesichtern auf der Dorfstraße. Vor den wenigen Möglichkeiten. Alle, die in die große Stadt kommen, eint der Wunsch nach einem besseren Leben. In der Großstadt können sie es finden. Und wer es nicht mit dem ersten Anlauf schafft, dem bietet die Stadt immer einen Plan B. Das Leben in der Großstadt kann eine Befreiung sein, hin zu mehr Selbstbestimmung. Endlich kann man selbst wählen. Gleichzeitig ist dies eine Belastung, weil der Mensch jetzt und hier unentwegt selbst wählen muss. Big cities are not made for sissies .
Wenn Freunde oder Familie aus der alten Heimat zu Besuch kommen in die Stadt, sitzen sie am Abend erschlagen auf dem Sofa. Die Stadt ist so groß, so anstrengend, diese langen Wege! Welche langen Wege denn? Großstadtbewohner fahren ja
Weitere Kostenlose Bücher