Schrei in der Nacht
MARY HIGGINS CLARK
SCHREI IN DER NACHT
Psycho-Thriller
Deutsch von Jürgen Abel
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nr. 01/6826
Titel der amerikanischen Originalausgabe A CRY IN THE NIGHT
Deutsche Übersetzung von Jürgen Abel Scanned by Doc Gonzo
Diese digitale
Version ist
FREEWARE
und nicht für den
Verkauf bestimmt
Copyright © 1982 by Mary Higgins Clark Copyright © der deutschen Übersetzung 1985 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1987
Umschlagfoto: Archiv Dr. Karkosch, Gilching Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-02437-0
Meinen Eltern und Brüdern gewidmet, Luke, Nora, Joseph und John Higgins, zum Dank
für eine glückliche Kindheit.
Prolog
Bei Tagesanbruch begann Jenny die Hütte zu suchen.
Wie gelähmt von der Stille des Hauses hatte sie die ganze Nacht wach gelegen, wach und regungslos in dem großen Himmelbett.
Jennys Gehör war immer noch auf das hungrige Schreien des Babys geeicht, ihre Brüste waren immer noch voll, bereit, die winzigen begierigen Lippen zu begrüßen, obwohl sie schon seit Wochen wußte, daß alles Warten vergeblich war.
Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an: Es wurde hell, und die Kristallschale auf der Frisierkommode sammelte das Licht und warf es gebündelt zurück. Die kleinen runden Stücke Fichtennadelseife, mit denen die Schale gefüllt war, verliehen der antiken silbernen Toilettengarnitur einen unheimlichen grünen Schimmer.
Jenny stand auf und begann sich anzuziehen, nahm die lange Unterwäsche und den dicken Pullover, den sie gewöhnlich unter ihrem Skianzug trug. Sie hatte das Weckradio auf vier Uhr gestellt. Der Wetterbericht für das Gebiet von Granite Place, Minnesota, war unverändert; die Temperatur war elf Grad unter Null. Die Windgeschwindigkeit lag bei vierzig Kilometern in der Stunde. Der Windkältefaktor betrug einunddreißig Grad minus.
Es war egal. Alles war egal. Sie mußte die Hütte finden, und wenn sie dabei erfror — irgendwo dort im Wald, unter Ahorn und Eichen, Tannen, Kiefern und überwuchertem Gehölz. Jenny hatte sich in jenen schlaflosen Stunden alles genau überlegt: Erich ging viel schneller als sie. Wegen seiner langen Schritte eilte er ihr immer unwillkürlich voraus. Sie machten sich beide darüber lustig. »He, warte bitte auf das Stadtmädchen«, protestierte sie dann gern.
Einmal hatte er auf dem Weg zur Hütte den Schlüssel vergessen und war sofort bei der Ankunft umgekehrt, um ihn zu holen. Vierzig Minuten insgesamt hatte er gebraucht. Also war die Hütte für ihn etwa zwanzig Minuten vom Waldrand entfernt.
Er hatte Jenny nie mitgenommen. »Versteh das bitte, Jenny«, bettelte er. »Jeder Künstler braucht einen Platz, wo er ganz alleine ist.«
Sie hatte noch nie versucht, die Hütte zu finden. Den Farmarbeitern war es streng verboten, in den Wald zu gehen. Selbst Clyde, seit dreißig Jahren Verwalter des Anwesens, wußte angeblich nicht, wo die Hütte war.
Der tiefe, verharschte Schnee machte sicher jeden Pfad unkenntlich, erlaubte es aber Jenny immerhin, die Langlaufskier zu benutzen. Sie mußte aufpassen, daß sie sich nicht verlief. Bei dem dichten Unterholz und ihrem katastrophalen Richtungssinn konnte es leicht passieren, daß sie im Kreis ging.
Jenny hatte darüber nachgedacht und beschlossen, einen Kompaß, einen Hammer, kleine Nägel und Lappen mitzunehmen. Wenn sie die Lappen einfach an Bäume nagelte, konnte sie den Rückweg finden.
Ihr Skianzug war im Wandschrank neben der Küche.
Während das Kaffeewasser heiß wurde, streifte sie den Anzug über. Der Kaffee half ihr, sich zu konzentrieren.
In der Nacht hatte sie kurz erwogen, zu Sheriff Gunderson zu fahren. Aber er würde sich bestimmt weigern, ihr zu helfen, und sie nur mit jenem halb skeptischen, halb verächtlichen Gesichtsausdruck anstarren.
Sie wollte eine Thermosflasche Kaffee mitnehmen. Sie hatte zwar keinen Schlüssel zu der Hütte, aber mit dem Hammer konnte sie ein Fenster einschlagen.
Obwohl Elsa schon seit über zwei Wochen nicht mehr gekommen war, blitzte das große alte Haus noch vor Sauberkeit, ein sichtbarer Beweis ihrer strengen Maßstäbe. Sie hatte die Gewohnheit, beim Weggehen den jeweiligen Tag vom Kalender über dem Wandtelefon abzureißen. Jenny hatte mit Erich darüber gescherzt. »Sie putzt nicht nur das, was nie schmutzig war, sie löscht auch noch jeden Abend in der Woche aus.«
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