Akte X Novel
1
Von den Rollos vor den Fenstern gefiltert, tauchte die Abenddämmerung über Philadelphia die Büroräume der Firma HTG Industrial Technologies in fahlblaues Licht. Es herrschte eine unheimliche Stille, die nur vom erstickten Schluchzen einer jungen Frau durchbrochen wurde.
Lauren Kyte war eine schlanke Frau in den Zwanzigern, deren zarte Gesichtszüge unter dem langen, rotbraunen Haar, das sie mit einem Haarband zurückgebunden hatte, deutlich zur Geltung kamen. Zwar arbeitete sie schon seit vier Jahren für HTG, doch hatte sie nie damit gerechnet, eines Tages vor einer so schweren Aufgabe zu stehen.
Sie zwang sich, mit dem Weinen aufzuhören. Wie sollte sie auch jemals fertig werden, wenn sie doch nur unablässig schluchzte? Langsam sah sie sich in dem Büro um. Es erschien ihr mit einem Mal überaus wichtig, sich an alles ganz genau zu erinnern: an den hölzernen Schreibtisch mit dem altmodischen gläsernen Tintenfäßchen, die Pferdeskulptur, das Bücherregal mit den bronzenen Buchstützen, die emaillierte Vase... und an das transparente Plastikschild auf dem Schreibtisch, auf dem stand: EIN HEUTE IST ZWEI MORGEN WERT. BEN FRANKLIN. Lauren erinnerte sich, daß sie diesen Sinnspruch damals, als sie anfing, für Howard Graves zu arbeiten, für altmodisch und kitschig gehalten hatte. Nun kam er ihr merkwürdig vorausschauend vor – als hätte Howard schon immer gewußt, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
Sie fühlte sich in diesem Augenblick außerstande, den Schreibtisch aufzuräumen. Statt dessen wappnete sie sich und trat hinter dem Tisch an die Wand, die mit allerlei gerahmten Auszeichnungen und Fotografien geschmückt war. Dort hing auch ein Foto, auf dem Howard neben den Präsidenten Nixon, Reagan und Bush zu erkennen war. Howard sah auf allen Bildern gleich aus – ein bescheidener, dunkelhaariger Mann mit einem sympathischen Lächeln. Niemand hätte in ihm den Chef von HTG Industrial Technologies vermutet, einen Mann, der einige der modernsten Waffenbauteile der Welt herstellte. Und niemand hätte jemals erwartet, daß ein solcher Mann hier in diesem Raum gearbeitet hatte, der dem bescheidenen Büro eines einfachen Zulieferers in einem Industriegebiet am Rand der Stadt glich.
Lauren atmete tief durch und fing an, die Fotos von den Wänden zu nehmen. Einen Augenblick lang starrte sie das Bild an, das Howard mit Präsident Clinton zeigte. Was für ein imposantes Leben ihr Boß doch geführt hatte!
Als die Bürotür geöffnet wurde und Jane Morris den Raum betrat, drehte Lauren sich zu ihr um. Jane, eine mütterliche Frau in mittleren Jahren, die ein großes Herz und stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen hatte, arbeitete als Assistentin für den Chef der Lohnbuchhaltung.
„Lauren!“ sagte sie. „Ich habe Sie schon überall...“ Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, wie erregt Lauren war.
Lauren mochte Jane, aber in diesem Moment wollte sie einfach nur allein sein, also konzentrierte sie sich darauf, die Fotografie in Zeitungspapier zu wickeln, um sie anschließend in einem Karton zu verstauen, der Howards Habe enthielt.
Jane wünschte sich, irgend etwas tun zu können, um die Trauer der jungen Frau zu lindern. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte sie sanft. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen oder...?“
Lauren schüttelte den Kopf. „Nein... Es geht mir gut.“
Als wollte sie einen Beweis für ihre Worte erbringen, machte sie sich daran, die Gegenstände auf Howards Schreibtisch zu verstauen.
„Ach, Kindchen“, sagte Jane. „Es ist jetzt schon mehrere Wochen her, und Sie trauern immer noch... Möchten Sie darüber reden?“
„Nein“, erwiderte Lauren bestimmt. „Wirklich, Jane, es geht mir gut. Es ist nur, weil...“ Sie schluckte. Es fiel ihr schwer, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. „Ich habe nicht viele Menschen gekannt, die gestorben sind. Und... ich habe noch nie jemanden gekannt, der sich selbst umgebracht hat.“
Jane nickte mitfühlend. „Vielleicht geht es Ihnen besser, wenn erst alles eingepackt ist“, sagte sie dann. „Dann werden Sie sich nicht mehr ständig an ihn erinnern.“
Lauren nickte, obwohl sie Zweifel an Janes Worten hegte.
Jane lächelte und überreichte ihr einen Umschlag. „Hier ist Ihr Lohnscheck.“ Sie beugte sich vor und drückte in einer flüchtigen Geste ihre Stirn gegen die Laurens, ehe sie freundlich hinzufügte: „Nun kommen Sie schon, gehen Sie nach Hause.“
„Okay“, stimmte Lauren zu, wobei sie sich ein
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