Stefan Zweig - Gesammelte Werke
für Stück reißt er die Hüllen der Lüge von sich los, mit denen er sich umgürtet, bis er nackt vor sich selber steht. Tief in die Haut haben sich die Vorurteile gefressen, blutend muß er sie losreißen, das Vorurteil des Vaterlands, der Gemeinsamkeit, bis er erkennt: nur eines ist wahr, nur eines ist heilig – das Leben. Ein Fieber des Suchens verzehrt ihn und der ganze alte Mensch verzehrt sich in ihm: im Morgengrauen ist er ein anderer. Er ist genesen.
Hier beginnt nun die eigentliche Tragödie, jener Kampf, den Rolland immer als den einzig wesentlichen des Lebens, ja als das Leben selbst empfindet: das Ringen eines Menschen um seine eigene, ihm persönlich zugehörige Wahrheit. Clerambault macht seine Seele frei von all dem, was durch den ungeheuren Druck der Zeit gewaltsam in sie eingeströmt war, aber nur die erste Stufe ist dies Wissen um die Wahrheit: wer um sie weiß und sie verschweigt, wird schuldiger als der Unbewußte in seinem Irrtum. Jede Erkenntnis bleibt wertlos, solange sie nicht in Bekenntnis verwandelt wird, es genügt nicht, wie Buddha, mit schweigender Lippe und starrem Auge wissend und doch kühl über den Wahn der Welt hinwegzusehen: in tiefer Stunde gedenkt Clerambault jenes anderen indischen Heiligen, des Bodhisatwa, der geschworen, erst dann ins Abseits zu gehen, wenn er die Welt und die Menschen von ihren Leiden erlöst habe. Und in dem Augenblicke, da er beginnt den Menschen helfen zu wollen, beginnt auch sein Kampf mit den Menschen.
Nun wird er plötzlich »l’un contre tous« , der Eine gegen Alle, aus den brüchigen, unsichern Menschen erwächst der Charakter, der heroische Mensch. Er ist einsam wie Johann Christof, einsamer sogar, denn jenen umrauscht noch Musik und in den Ekstasen der Schöpfung steigert sich dem Genie Wille und Kraft. Der ungeniale Clerambault hat niemand als sich selbst, seine Freunde verlassen ihn, seine Familie schämt sich seiner, die öffentliche Meinung fällt über ihn her, die ganze menschliche Masse stürzt sich gegen den Vorwitzigen, der sich ihr frei entwinden will und frei bleiben von ihrem Wahn. Das Werk, das er verteidigt, ist ein unsichtbares: seine Überzeugung. Je weiter er geht, umso kälter überfällt ihn Einsamkeit, desto heißer umstrickt ihn Haß, bis er schließlich, ein Märtyrer der Wahrheit, mit dem Leben seinen Glauben bezahlt.
Ein Roman aus der Zeit, eine Abrechnung mit dem Krieg scheint diese »Geschichte eines freien Gewissens« dem ersten Blick zu sein; aber wie der Johann Christof ist dies Lebensbild unendlich mehr: ein Kampf, nicht für oder wider ein Einzelnes des Lebens, sondern ein Kampf um das Ganze des Lebens, eine Abrechnung mit der Welt, wie sie nie ein Künstler restloser vollzogen hat. Nur ist von der naiven stürmischen Gläubigkeit Johann Christofs etwas dahin geschwunden, der lodernde Enthusiasmus des Schöpfers ist gedämpft zur tragischen Weisheit des Erkennenden. Johann Christof rief noch: »Das Leben ist eine Tragödie. Hurra!«, hier fehlt jenes rauschende aufspringende »Hurra«. Die Erkenntnis ist leidenschaftlicher geworden, aber reiner, klarer, logischer, sie hat sich vergeistigt und verklärt. Denn gerade im Kriege ist Rollands Glaube an die Menschheit als Masse tragisch erschüttert worden. Noch ist der Lebensglaube in ihm stark und aufrecht, aber er ist nicht mehr Menschheitsglaube. Rolland hat erkannt, daß die Menschheit betrogen sein will, daß sie Freiheit zu ersehnen nur vorgibt, in Wirklichkeit aber glücklich ist, sich von jeder geistigen Verantwortung zu lösen und sich in die warme Knechtschaft eines Massenwahns zu flüchten. Er hat erkannt, daß eine Lüge, die sie begeistert, ihr teurer ist als eine Wahrheit, die sie ernüchtert; und Clerambault drückt sein ganzes Gefühl der Resignation und Hingabe aus, wenn er sagt: »Man kann den Menschen nicht helfen, man kann sie nur lieben.« Das Vertrauen für die Massen, die »leicht verführbaren«, ist einem tiefen Mitleid für die Menschheit gewichen, und wieder – zum wievielten Male! – wendet sich des ewig Gläubigen ganze Begeisterung zu den großen Einsamen, die für die Menschheit leben und an ihr zugrunde gehen, zu den Heroen jenseits der Zeiten und jenseits der Völker. Was Rolland einst im Beethoven gezeigt, im Michelangelo und später im Johann Christof, das erhebt nun die Gestalt seines Clerambault zu der schönsten tragischen Form: daß er für alle wirkt, aus der tiefsten Wahrheit seiner Natur, notwendigerweise der »l’un
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