Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Orient und Okzident, Süd und Nord, Ost und West waren durch das neuersonnene Vehikel einander nahegebracht. Und genau wie das Rad in allen seinen technisch gesteigerten Formen – unter der Lokomotive rollend, das Automobil vorwärtsschnellend, im Propeller umschwingend – die Schwerkraft des Raumes, so überwindet die Schrift, gleichfalls längst fortgeschritten von der beschriebenen Rolle, vom Einblatt zum Buch, die tragische Erlebnis- und Erfahrungsbegrenztheit der irdischen Einzelseele: durch das Buch ist keiner mehr ganz mit sich allein in sein eigenes Blickfeld eingemauert, sondern kann teilhaft werden alles gegenwärtigen und gewesenen Geschehens, des ganzen Denkens und Fühlens der ganzen Menschheit. Alle oder fast alle geistige Bewegung unserer geistigen Welt ist heute auf das Buch gegründet, und jene einverständliche, über das Materielle erhobene Lebensgestaltung, die wir Kultur nennen, wäre undenkbar ohne seine Gegenwart. Diese seelenausweitende, diese weltaufbauende Gewalt des Buches in unserem privaten und persönlichen Leben, sie wird uns eigentlich höchst selten bewußt und fast immer nur in ausgesparten Augenblicken. Denn das Buch ist längst zu selbstverständlich innerhalb unseres Tagwerkes, als daß wir das jedesmal Neu-Wunderbare seines Wesens neu und neu dankbar bemerkten. So wie wir uns gar nicht besinnen, daß wir bei jedem Atemzug Sauerstoff in uns ziehen und unser Blut durch diese unsichtbare Nahrung geheimnisvolle chemische Erfrischung erfährt, so merken wir kaum, daß wir unablässig durch das lesende Auge seelischen Stoff empfangen und damit unseren geistigen Organismus auffrischen oder ermüden. Lesen ist für uns Söhne und Enkel von Jahrhunderten der Schrift eine beinahe schon körperliche Funktion, ein Automatismus geworden, und das Buch, weil es uns seit der ersten Schulklasse nah der Hand bleibt, längst ein dermaßen selbstverständlich Mit-uns-Seiendes, Um-uns-Seiendes, daß wir zu einem Buche meist so lässig gleichgültig greifen wie zu unserem Rock, zu unserem Handschuh, zu einer Zigarette, zu irgendeinem dieser serienhaft produzierten Massenfabrikate. Immer hebt ja das leicht Erreichbare eines Wertes die Ehrfurcht vor ihm auf, und nur in den wahrhaft produktiven, in den nachdenklichen und von innen her betrachtenden Augenblicken unseres Daseins verwandelt sich das Gewohnte und Gewöhnliche wieder ins Wunderbare zurück. Einzig in solchen besinnenden Stunden werden wir dann der magischen und seelenbewegenden Kraft ehrfürchtig gewahr, die vom Buche in unser Leben übergeht und es uns so wichtig macht, daß wir heute im zwanzigsten Jahrhundert unsere innere Existenz nicht mehr denken können ohne das Wunder seiner Gegenwart.
Solche Augenblicke sind selten, aber eben, weil sie selten sind, bleibt dann der einzelne lange und oft über Jahre hinaus erinnerlich. So weiß ich noch genau den Tag, den Ort und die Stunde, wo mir in entscheidender Weise aufging, in wie tiefer und schöpferischer Art unsere innere private Welt mit jener anderen sichtbaren und zugleich unsichtbaren der Bücher verflochten ist. Ich glaube, diesen geistigen Erkenntnismoment ohne Unbescheidenheit erzählen zu dürfen, denn obschon persönlich, reicht diese Erlebnis- und Erkenntnisminute weit über meine zufällige Person hinaus. Ich war damals etwa sechsundzwanzig Jahre alt, hatte selbst schon Bücher geschrieben, wußte also schon einigermaßen um die geheimnisvolle Verwandlung, die irgendein dumpf Vorgestelltes, ein Traum, eine Phantasie erfährt, und die vielen Phasen, die sie durchschreiten muß, bis sie sich dank der merkwürdigen Verdichtungen und Sublimierungen endlich in ein solches kartoniertes Rechteck verwandelt, das wir Buch nennen, in ein solches Wesen, das verkäuflich, preisgestempelt und scheinbar willenlos wie eine Ware im Schauladen hinter Glas liegt, und gleichzeitig doch wach, beseelt jedes einzelne Exemplar, obwohl käuflich, doch sich gehörig, und zugleich dem anderen, der es neugierig anblättern will, und noch stärker dem, der es liest, und schließlich ganz und eigentlich jenem letzten, der es nicht nur liest, sondern auch genießt. Ich hatte also schon selbst etwas erfahren von diesem unbeschreibbaren Prozeß der Transfusion, wo gewissermaßen Tropfen der eigenen Substanz übergeführt werden in fremde Adern, Schicksal in Schicksal, Gefühl in Gefühl, Geist in Geist: aber doch, die volle Magie, die Weite und Vehemenz der Wesenswirkung des Gedruckten, sie war mir noch nicht
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