Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Vorwort
Für die Bewohner der Gebiete an der Atlantikküste Mittelamerikas war die Gegend um die Chesapeake Bay einst ein Paradies. Das fruchtbare Land mit den vielen Flussmündungen in einem gemäßigten Klima gab den Menschen alles, was sie zum Leben brauchten. Die alljährliche Ankunft der Wasservögel und die zur Laichzeit flussaufwärts schwimmenden Fische boten zu jeder Jahreszeit eine Fülle von Nahrung. Die Wälder, Lebensraum für Truthähne, Bären, Rotwild, Waschbären und andere Tiere, lieferten Nüsse in Menge. Aus den Marschen holten sich die Menschen Spartgras, Wildreis, Bisamratten, Pfeilwurz für das Aronbrot und andere Nahrungsmittel. In seichten Gewässern fingen sie Krabben, Muscheln und ernteten Austern. In der fruchtbaren Erde an den Flussufern wuchsen unter anderem Bohnen, Mais, Kürbisse, Tabak und Sonnenblumen. In diesem Land des Überflusses konnten nur englische Borniertheit und die damit verbundene Verachtung gegenüber den Einheimischen dazu führen, dass die Jamestown-Kolonie 1608 eine Hungersnot erlebte.
Auch heute noch ist das Gebiet berühmt für seine Fruchtbarkeit, die landschaftliche Schönheit, die Wasservögel, Austern und Krabben, die Landwirtschaft und - erstaunlich genug den Potomac eine kurzes Stück flussaufwärts für die Politik.
Seit den Tagen der Waldland-Kultur hat sich hier nur wenig verändert. Damals wie heute verlangen die Häuptlinge Tribut und erhalten ihn.
Die Zeit, in der dieser Roman spielt - um 1300 n. Chr. - wird in der Archäologie »Waldland II«
genannt; es war eine Übergangszeit für die östliche Gruppe der Völker der Algonkin, die bisher in der Küstenebene gelebt hatte. Mindestens drei verschiedene archäologische Komplexe sind während der Neuansiedlung in größeren Dörfern und der nun beginnenden Häuptlingsherrschaft festzustellen.
In unserem Roman unterscheiden wir drei verschiedene Stammesgemeinschaften: die Dörfer am Oberlauf des Flusses (Montgomery-Komplex), die Dörfer der Conoy-Halbinsel (Potomac-Komplex) und die Unabhängigen Dörfer und die Mamanatowick-Dörfer (Rappahannock-Komplex).
Diesen Gruppen waren viele kulturelle Lebensformen gemeinsam; sie waren Sammler und Jäger, die fischten und Ackerbau betrieben. Die Archäologie unterscheidet sie nach Töpferstil, nach Bestattungsriten und Häuserformen. Alle drei Gruppen tauschten im Binnenland Feuerstein zur Herstellung von Werkzeugen, Kupfer und Luxusgüter. Der Weg dieser Waren verlief ostwestlich durch das Einzugsgebiet des Potomac und nordsüdlich durch die Chesapeake Bay hinauf zum Susquehanna-Fluss und hinunter bis zu den Gebirgsausläufern der beiden Carolinas. Zur Abwehr der bösartigen Moskitoschwärme fetteten sich die Menschen ein; später beklagten sich Europäer über die verrauchten Häuser, aber dank der blauen Schwaden schliefen sie gut und tief.
Aus der historischen und ethnographischen Forschung wissen wir, dass diese Algonkin - im Gegensatz zu den nördlichen Sippen - eine matrilineare Erbfolge hatten: Die Abstammung wurde in weiblicher Linie gerechnet. Die Frauen verfügten über Häuser, Felder und Kinder und erfreuten sich auch, wie es in solchen Gemeinschaften üblich war, einer großen Freizügigkeit in sexuellen Beziehungen. Die Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen den Geschlechtern waren genau festgelegt. Die Männer jagten, fischten, bauten Häuser und führten Krieg, während die Frauen sich um Feldarbeit, Nahrungszubereitung, Kindererziehung und Clan-Verwaltung kümmerten.
Aus der Archäologie wissen wir, dass sich die Dörfer um jene Zeit vergrößerten und Palisaden gebaut wurden. Diese Befestigungen wurden nicht zum Vergnügen errichtet, denn der Bau war aufwändig und Zeit raubend. Gleichzeitig befanden sich immer noch Langhäuser außerhalb der Palisaden, und das zeigt uns, dass es in diesem Gebiet zwar Kriege gab, doch nicht im Übermaß. Wir haben versucht, die wechselnden Beziehungen zwischen den Dörfern darzustellen.
Zweihundert Jahre später kamen Europäer in der Chesapeake Bay an und veränderten das Leben der einheimischen Völker von Grund auf. Der Rappahannock-Komplex entwickelte sich nach der Beschreibung von Kapitän John Smith zum Stammesbund der Powhatan unter einem mächtigen Häuptling, dem Vater der berühmten Pocahontas; zwischen der Conoy-Halbinsel und Lord Calverts katholischer Ansiedlung in Maryland fand ein kultureller Austausch statt. Aber hundert Jahre später waren neunzig Prozent der einheimischen Bevölkerung
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