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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Arzt, stille und demütige Liebe umgibt ihn mit Schweigen. Auf dem Nachttisch liegt das kleine Tagebuch, sein Sprachrohr zu Gott, aber die fiebrigen Hände vermögen den Stift nicht mehr zu halten. So diktiert er aus jagender Lunge, mit verlöschender Stimme der Tochter noch seine letzten Gedanken, nennt Gott »jenes unbegrenzte All, von dem sich der Mensch als einen begrenzten Teil fühlt, seine Offenbarung in Stoff, Zeit und Raum« und verkündigt, daß die Vereinigung dieser irdischen Wesen mit dem Leben anderer Wesen einzig durch die Liebe geschehe. Zwei Tage vor seinem Tode spannt er noch alle seine Sinne, die obere Wahrheit, die unerreichbare, zu fassen. Dann erst schattet mählich die Dunkelheit über dieses strahlende Gehirn.
    Draußen drängen die Menschen neugierig und frech. Er fühlt sie nicht mehr. Vor den Fenstern späht, von Reue gedemütigt, durch die Tränen ihrer strömenden Augen Sophia Andrejewna, seine Frau, herein, die ihm achtundvierzig Jahre verbunden war, um nur von ferne noch einmal sein Antlitz zu sehen: er erkennt sie nicht mehr. Immer fremder werden dem hellsichtigsten aller Menschen die Dinge des Lebens, immer dunkler und stockender rollt das Blut durch die brechenden Adern. In der Nacht des vierten Novembers rafft er sich noch einmal auf und stöhnt: »Aber die Bauern – wie sterben denn die Bauern?« Noch wehrt sich das ungeheure Leben gegen den ungeheuren Tod. Erst am 7. November kommt das Sterben über den Unsterblichen. Hin sinkt das weißumloderte Haupt in die Kissen, die Augen verlöschen, die wissender als alle die Welt gesehen. Und nun erst weiß der ungeduldige Sucher endlich die Wahrheit und den Sinn alles Lebens.

Ausklang
    Der Mensch ist gestorben, aber sein Verhältnis zur Welt wirkt fort auf die Menschen und nicht nur so wie im Leben, sondern weit stärker, und seine Wirkung steigert sich an seiner Vernünftigkeit und Liebe und wächst wie alles Lebende ohne Pause und ohne Ende.
    Brief
     
    E inen menschheitlichen Menschen hat Maxim Gorki einmal Leo Tolstoi genannt: unübertreffliches Wort. Denn er war Mensch mit uns allen, geformt aus dem gleichen brüchigen Lehm und behaftet mit denselben irdischen Unzulänglichkeiten, aber tiefer um sie wissend, schmerzlicher an ihnen leidend. Nicht als ein andersartiger, ein höherer denn die andern seines Weltalters ist Leo Tolstoi gewesen, nur mehr Mensch als die meisten, sittlicher, hellsinniger, wacher und leidenschaftlicher – gleichsam ein erster und klarster Abdruck jener unsichtbaren Urform in des Weltkünstlers Werkstatt.
    Dieses Bildnis des ewigen Menschen aber, von dem ein schattenhafter und oftmals schon unkenntlicher Entwurf uns allen zugrunde liegt, inmitten unserer vermengten Welt möglichst vollkommen zu entäußern, erwählt sich Tolstoi als eigentliche Lebenstat – eine nie beendbare, nie völlig erfüllbare und doppelt heldische darum. Er hat den Menschen gesucht in der äußersten Erscheinung dank einer unvergleichlichen Wahrhaftigkeit der Sinne, er hat ihn gesucht im Geheimnisraum des eigenen Gewissens, hinabdringend in Tiefen, die man nur erreicht, indem man sich verwundet. Mit einem grimmigen Ernst, mit einer unbarmherzigen Härte hat dieses vorbildlich ethische Genie rückhaltlos sich die Seele aufgewühlt, um jenes unser vollkommenes Urbild aus seiner irdischen Kruste zu befreien und der ganzen Menschheit ihr edleres und gottähnlicheres Antlitz zu zeigen. Nie ruhend, nie sich befriedend, nie seiner Kunst die arglose Freude des bloßen Formenspiels gönnend, arbeitet dieser unerschrockene Bildner achtzig Jahre an diesem großartigen Werke der Selbstvervollkommnung durch Selbstdarstellung. Seit Goethe hat kein Dichter derart sich selbst und gleichzeitig den ewigen Menschen offenbar gemacht.
    Aber nur scheinbar hat dieser heroische Wille zur Weltversittlichung durch Prüfung und Prägung der eigenen Seele mit dem Atem dieses einmaligen Menschen geendet – unentwegt gestaltend und fortgestaltend wirkt der mächtige Impuls seines Wesens ins Lebendige weiter. Noch sind als Zeugen seiner Irdischkeit manche zur Stelle, die erschauernd in dies stahlgrau schneidende Auge geblickt, und doch ist längst schon der Mensch Tolstoi zum Mythos geworden, sein Leben eine hohe Legende der Menschheit und sein Kampf wider sich selbst ein Beispiel für unser und jedes Geschlecht. Denn alles aufopfernd Gedachte, alles heldisch Vollbrachte ist auf unserer engen Erde immer für alle geleistet, an jeder Größe eines Menschen

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