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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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der Angst, zu kränken oder gekränkt zu werden, sie blicken nicht bei jedem Schritt fragend um sich. Gott quält sie nicht mehr, er befriedet sie. Sie wissen um alles, aber eben weil sie alles wissen, verstehen sie auch alles, sie richten nicht und sie verurteilen nicht, sie grübeln nicht nach Dingen, sondern glauben sie dankbar. Seltsam: er, der ewig Beunruhigte, sieht in dem gelassenen, geklärten Menschen die höchste Form des Lebens, der Zwiespältige postuliert als letztes Ideal die Einheit, der Empörer die Unterwerfung. Seine Gottesqual ist in ihnen Gotteslust geworden, seine Zweifel Gewißheit, seine Hysterie Gesundung, sein Leid ein allumfassendes Glück. Das Letzte und Schönste der Existenz ist für ihn, was er selbst, der Bewußte und Überbewußte, nie gekannt und was er darum für den Menschen als das Erhabenste ersehnt: Naivität, Kindlichkeit des Herzens, die sanfte, die selbstverständliche Heiterkeit.
    Sehet seine liebsten Menschen, wie sie schreiten: ein sanftes Lächeln ist auf ihren Lippen, um alles wissen sie und haben doch keinen Stolz, sie leben im Geheimnis des Lebens nicht wie in einer feurigen Schlucht, sondern schlagen es blau wie einen Himmel um sich. Sie haben die Urfeinde der Existenz, sie haben »Schmerz und Angst besiegt« und sind darum gottselig geworden in der unendlichen Brüderschaft der Dinge. Sie sind erlöst von ihrem Ich. Höchstes Glück der Erdenkinder ist die Unpersönlichkeit – so verwandelt der höchste Individualist die Weisheit Goethes in einen neuen Glauben.
    Kein Beispiel kennt die Geschichte des Geistes einer ähnlichen moralischen Selbstvernichtung innerhalb eines Menschen, ähnlich fruchtbarer Erschaffung des Ideals aus dem Kontrast. Märtyrer seiner selbst, hat Dostojewski sich ans Kreuz geschlagen: sein Wissen, daß es den Glauben bezeuge, seinen Körper, daß er durch Kunst den neuen Menschen zeuge, seine Eigenheit um der Allheit willen. Er will seinen eigenen Untergang als Typus, damit eine glücklichere, bessere Menschheit entstehe: alles Leiden nimmt er auf sich um das Glück der andern willen. Und der sich sechzig Jahre gespannt zur schmerzhaftesten Weite seines Gegensatzes, zerwühlt zu allen Tiefen seines Wesens, damit er Gott und damit den Sinn des Lebens finde – er wirft die gehäufte Erkenntnis weg für eine neue Menschheit, der er sein tiefstes Geheimnis sagt, die letzte Formel, seine unvergeßlichste: »Das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens.«

Vita Triumphatrix
    Wie es auch war, das Leben, es ist schön.
    Goethe
     
    W ie dunkel der Weg durch Dostojewskis Tiefe, wie düster seine Landschaft, wie drückend seine Unendlichkeit, geheimnisvoll ähnlich seinem tragischen Antlitz, das allen Schmerz des Lebens in sich gemeißelt! Abgründige Höllenkreise des Herzens, purpurne Fegefeuer der Seele, der tiefste Schacht, den irdische Hand jemals in die Unterwelt des Gefühles hinabstieß. Wieviel Dunkel in dieser Menschenwelt, wieviel Leiden in diesem Dunkel! O welche Trauer auf seiner Erde, dieser Erde, »die mit Tränen getränkt ist bis zu ihrer untersten Kruste«, welche Höllenkreise in ihrer Tiefe, finsterer als Dante, der Seher, sie vor einem Jahrtausend erschaut. Unerlöste Opfer ihrer Irdischkeit, Märtyrer eigenen Gefühles, gequält von allen Geißeln des Geistes, schäumend im Schwall ohnmächtiger Empörung, o welche Welt, diese Welt Dostojewskis! Vermauert alle Freude, verbannt alle Hoffnung, ohne Rettung vor dem Leiden, das, unendlich getürmte Mauer, um alle seine Opfer steht! – Kann kein Mitleid sie erlösen, seine Menschen, aus ihrer eigenen Tiefe, sprengt keine apokalyptische Stunde diese Hölle, die ein Gottmensch schuf aus seiner Qual?
    Tumult und Klage strömt aus dieser Tiefe, wie nie die Menschheit sie erhört. Nie war mehr Dunkelheit über einem Werk. Selbst Michelangelos Gestalten sind linder in ihrer Trauer, und über Dantes Tiefe glänzt der Paradiese seliger Schein. Ist wirklich das Leben nur ewige Nacht in Dostojewskis Werk und Leiden der Sinn alles Lebens? Zitternd beugt sich die Seele über den Abgrund und schauert, nur Qual und Klage zu hören von ihren Brüdern.
    Aber da schwebt ein Wort aus der Tiefe, sanft im Getümmel und doch hoch sie überschwebend, wie eine Taube aufschwebt über stürmendem Meer. Sanft ist es gesprochen, und groß ist sein Sinn, selig das Wort: »Meine Freunde, fürchtet das Leben nicht.« Und es ist ein Schweigen aus diesem Wort, schaudernd lauscht die Tiefe, und sie schwebt, sie

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