Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Vereinigten Staaten, glaubte er, daß ich spaße, und ließ sich erst durch einen Blick auf die Landkarte überzeugen. Oder ich fand in dem Roman eines sehr bekannten englischen Autors das amüsante Detail, daß er seinen Helden nach Rio de Janeiro gehen läßt, um dort spanisch zu erlernen. Aber er ist nur einer von Unzähligen, die nicht wissen, daß man in Brasilien portugiesisch spricht. Jedoch es steht mir, wie gesagt, nicht zu, anderen hochmütige Vorhaltungen wegen ihrer geringen Kenntnis zu machen; ich habe selbst, als ich das erstemal von Europa abfuhr, nichts oder wenigstens nichts Zuverlässiges von Brasilien gewußt.
Dann kam die Landung in Rio, einer der mächtigsten Eindrücke, den ich zeitlebens empfangen. Ich war fasziniert und gleichzeitig erschüttert. Denn hier trat mir nicht nur eine der herrlichsten Landschaften der Erde entgegen, diese einzigartige Kombination von Meer und Gebirge, Stadt und tropischer Natur, sondern auch eine ganz neue Art der Zivilisation. Da war ganz gegen meine Erwartung mit Ordnung und Sauberkeit in Architektur und städtischer Anlage ein durchaus persönliches Bild, da war Kühnheit und Großartigkeit in allen neuen Dingen und gleichzeitig eine alte, durch die Distanz noch besonders glücklich bewahrte geistige Kultur. Da war Farbe und Bewegung, das erregte Auge wurde nicht müde zu schauen, und wohin es blickte, war es beglückt. Ein Rausch von Schönheit und Glück überkam mich, der die Sinne erregte, die Nerven spannte, das Herz erweiterte, den Geist beschäftigte, und soviel ich sah, es war nie genug. In den letzten Tagen fuhr ich ins Innere oder vielmehr – ich glaubte ins Innere zu fahren. Ich fuhr zwölf Stunden, vierzehn Stunden weit nach São Paulo, nach Campinas, in der Meinung, dem Herzen dieses Landes damit näherzukommen. Aber als ich zurückgekehrt dann auf die Karte blickte, entdeckte ich, daß ich mit diesen zwölf oder vierzehn Stunden Eisenbahnfahrt nur knapp unter die Haut gekommen; zum erstenmal begann ich die unfaßbare Größe dieses Landes zu ahnen, das man eigentlich kaum mehr ein Land nennen sollte, sondern eher einen Erdteil, eine Welt mit Raum für dreihundert, vierhundert, fünfhundert Millionen und einem unermeßlichen, noch kaum zum tausendsten Teile ausgenützten Reichtum unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst beginnender Entwicklung. Ein Land, dessen Wichtigkeit für die kommenden Generationen auch mit den kühnsten Kombinationen nicht auszudenken ist. Und mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit schmolz der europäische Hochmut dahin, den ich höchst überflüssigerweise als Gepäck auf diese Reise mitgenommen. Ich wußte, ich hatte einen Blick in die Zukunft unserer Welt getan.
Als dann das Schiff abfuhr – es war eine Sternennacht, und doch glänzte diese einzige Stadt mit ihren Perlenschnüren elektrischen Lichts schöner und geheimnisvoller als die Funken des Firmaments – war ich gewiß, daß ich diese Stadt, dieses Land nicht zum letztenmal gesehen, und völlig im klaren auch, daß ich eigentlich nichts gesehen oder keinesfalls genug. Ich nahm mir vor, gleich im nächsten Jahr wiederzukommen, besser vorbereitet und um länger zu bleiben, um noch einmal und noch stärker dieses Gefühl zu empfinden, im Werdenden, Kommenden, Zukünftigen zu leben und die Sicherheit des Friedens, die gute gastliche Atmosphäre nun noch bewußter zu genießen. Aber ich konnte mein Versprechen nicht halten. Im nächsten Jahr war der Krieg in Spanien, und man sagte sich: warte ab bis zu einer ruhigeren Zeit. 1938 fiel Österreich, und wieder harrte man auf einen ruhigeren Augenblick. Dann, 1939, war es die Tschechoslowakei und dann der Krieg in Polen und dann der Krieg aller gegen alle in unserem selbstmörderischen Europa. Immer leidenschaftlicher wurde mein Wunsch, mich aus einer Welt, die sich zerstört, für einige Zeit in eine zu retten, die friedlich und schöpferisch aufbaut; endlich kam ich wieder in dieses Land, besser und gründlicher vorbereitet als zuvor, um zu versuchen, davon ein kleines Bild zu geben.
Ich weiß, daß dieses Bild nicht vollständig ist und nicht vollständig sein kann. Es ist unmöglich, Brasilien, eine so weiträumige Welt, vollkommen zu kennen. Ich habe ungefähr ein halbes Jahr in diesem Lande verbracht und weiß gerade jetzt erst, wieviel trotz allen Lerneifers und Reisens mir zu einem wirklich vollständigen
Weitere Kostenlose Bücher