Sterblich
Leuten mit spitzen Ellenbogen auf und legte sich schnell selber welche zu. Sie beanspruchte Raum, selbst als Aushilfe. Und sie hatte hohe Ansprüche.
Henning arbeitete für die Online-Zeitung Nettavisen , als Heidi ihre Ausbildung abschloss. Neben seiner Arbeit als Kriminalreporter war er hauptverantwortlich für die Auswahl und das Einarbeiten der neuen Journalisten und Volontäre, er zeigte ihnen die Kniffe, korrigierte sie während der Arbeit, schubste sie in die Richtung des übergeordneten Ziels, das darin bestand, emsige Ameisen heranzuziehen, die keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung brauchten, um Spitzenartikel und Klick-Magneten am Fließband zu liefern.
Er mochte diesen Teil seiner Arbeit. Und Nettavisen war eine gute Startadresse, auch wenn den meisten sicher nicht klar war, dass sie in einem Formel-1-Wagen in einen Medienzirkus geschickt wurden, in dem die Geschwindigkeit mit jedem Tag zunahm und die Straßen immer voller wurden. Bei Weitem nicht alle eigneten sich für so ein Leben, für diese Art zu denken und zu arbeiten. Und das Problem war, dass jedes Mal, wenn er auch nur ansatzweise einen guten Internet-Journalisten witterte, derjenige verschwand. Weil er woanders einen Job angeboten bekam, einen spannenderen Job, eine feste Anstellung irgendwo anders.
Heidi verschwand bereits nach vier Monaten. Sie bekam ein Angebot vom Dagbladet , das sie nicht ablehnen konnte. Henning hatte damals vollstes Verständnis. Das Dagbladet . Höherer Status. Mehr Geld. Heidi wollte alles und das so schnell wie möglich. Und sie bekam es.
Und jetzt ist sie also seine Chefin. Himmel Herrgott, denkt er, das geht im Leben nicht gut.
»Freut mich, dich wieder in unserer Runde zu haben, Henning«, insistiert Kåre. Henning antwortet mit einem »Hm«.
»In zehn Minuten ist Morgensitzung. Du bist doch dabei, oder?«
Er antwortet wieder mit »Hm«.
»Fein! Fein! Ich muss weiter. Muss zu einem anderen Meeting.«
Kåre lächelt, streckt den Daumen hoch, dreht sich um und geht. Er läuft an einem Mann vorbei, klopft ihm ebenfalls auf die Schulter, ehe er um die Ecke biegt und verschwindet. Henning bleibt kopfschüttelnd stehen. Dann setzt er sich auf einen Stuhl, der heftig knarrt und schwingt wie ein Boot. Neben der Tastatur liegt ein roter Notizblock, der noch in Folie eingeschweißt ist. Vier Stifte. Wahrscheinlich funktioniert keiner. Ausdrucke von alten Artikeln liegen auf einem Stapel, er erkennt Recherchematerial von alten Fällen wieder, an denen er gearbeitet hat, ein ausrangiertes Mobilladeteil, das unnötig viel Platz einnimmt, und einen Stapel Visitenkarten. Seine Visitenkarten.
Sein Blick bleibt an einem gerahmten Foto hängen, das schräg auf der Arbeitsfläche steht. Darauf sind zwei Menschen zu sehen, eine Frau und ein Junge.
Nora und Jonas.
Er sieht sie an, ohne sie zu sehen. Kein Lächeln. Bitte, lächelt mich nicht an.
Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.
Er streckt die Hand aus, hebt den Rahmen hoch und legt das Foto weg.
Mit dem Bild nach unten.
4
Morgensitzungen. Das Kerngeschäft aller Redaktionen. Dort wird der Produktionsplan für den Tag erstellt, werden die Aufgaben verteilt, Beiträge nach Kriterien wie Aktualität, Wichtigkeit und – im Fall von 123nyheter – Leserpotenzial hoch- oder runtergestuft.
Zuerst haben die jeweiligen Redaktionen ihre Morgensitzungen. Sport, Wirtschaft, Kultur, Nachrichten. Tageslisten werden gemacht. Und auf diesem Niveau sind die Sitzungen manchmal genial. Oft wird eine gute Idee in der Diskussion mit den anderen geboren, während andere Ideen verworfen werden, weil sich herausstellt, dass der Beitrag zu wenig hergibt oder eine konkurrierende Zeitung zwei Wochen vorher einen ganz ähnlichen Artikel gebracht hat. Danach treffen sich die Redakteure der einzelnen Ressorts, um sich auf den neuesten Stand zu bringen und dem Chef vom Dienst mitzuteilen, was im Laufe des Tages an Stoff bei ihm eingehen wird.
Wenn Henning etwas nicht vermisst hat, dann diese Sitzungen. Für ihn ist das vergeudete Zeit. Er ist für die aktuellen Nachrichten zuständig. Für Verbrechen, Morde, den Bodensatz, das Böse. Wieso muss er sich da anhören, dass Trine Haltvik ein Comeback plant? Oder dass Bruce Springsteen sich scheiden lassen will? Das kann er später in der Zeitung lesen – falls es ihn interessiert. Oder falls es dem Journalisten wider Erwarten gelungen sein sollte, das Ganze interessant zu verpacken. Außerdem haben der Wirtschaftsredakteur und
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