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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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an.
    »Kama Sutra?«
    Der Mann nickt stolz. Henning verkneift sich die Folgefrage.
    »Sie sind früh unterwegs?«
    »Wie jeden Morgen. Ich werde früh wach, schon immer, und Kama Sutra liebt es, den Tag hier draußen zu beginnen. Ich auch. Wenn es hier noch so ruhig ist und die Luft so frisch.«
    »Ich weiß, was Sie meinen«, sagt Henning und sieht sich noch einmal um.
    »Thorbjørn Skagestad«, sagt der Mann und kommt auf ihn zu. Er streckt die Hand aus. Henning ergreift sie.
    »Henning Juul.«
    Skagestad trägt die Fellmütze des Jägerkorps, obwohl Sommer ist. Die Gummistiefel sind ebenfalls militärgrün. Seine Lodenhose hat Taschen an den Seiten, vorn und hinten, und ist von den Knien abwärts mit Leder verstärkt. Auch die Jacke passt stilistisch und farblich dazu. Skagestad würde sich gut auf einem Cover von Unsere Jagd machen. Sein Gesicht ist zerfurcht, und die Zähne zeugen von zu viel Kaffee und Tabak. Trotzdem ist sein Gesicht auf Anhieb sympathisch. In seinen Mundwinkeln lauert die ganze Zeit ein Lächeln.
    »Sind Sie von der Polizei?«, fragt er und wirft einen Stock. Kama Sutra düst davon. Henning sieht die Pfoten über den weichen Rasen trommeln.
    »Ich bin Journalist. Arbeite für die Internetzeitung 123nyheter .«
    »123nyheter?«
    »Ja.«
    »Was ist denn das für ein Name für eine Zeitung?«
    Henning hebt die Hände, als wollte er sich entschuldigen.
    »Fragen Sie mich nicht, ich hab den Namen nicht erfunden.«
    »Und was machen Sie hier um diese Zeit? Hier ist doch niemand.«
    » Sie sind doch hier. Sie haben die Tote gefunden, nicht wahr?«
    Henning sieht dem Mann seine Skepsis an. So geht es den meisten, wenn ihnen aufgeht, dass sie interviewt werden sollen. Aber dieser Kerl darf ihm jetzt ruhig ein paar Fragen beantworten. Schließlich hat Henning nach der Attacke seines Hundes etwas gut bei ihm.
    »Ich möchte nicht in der Zeitung erwähnt werden.«
    »Das wird nicht notwendig sein.«
    Kama Sutra kommt mit dem Stock im Maul zurück. Skagestad fasst ihn am einen Ende und zieht mit aller Macht daran. Der Hund knurrt wieder und lässt nicht locker, bis Skagestad zu stark wird. Der Hund hechelt, die Zunge hängt ihm aus dem Maul. Er setzt sich mit erwartungsvollem Blick aufs Hinterteil. Skagestad schleudert den Stock noch einmal weg.
    »Etwas Derartiges hab ich noch nie gesehen.«
    Henning kann es sich vorstellen.
    »Was ist bloß aus unserer Gesellschaft geworden?«, fährt Skagestad fort. »Steinigung in Norwegen?« Er schüttelt den Kopf. »Bestimmt irgendwelche verfluchten Einwanderer.«
    Henning würde am liebsten etwas entgegnen, lässt es aber bleiben. Wie Jarle Høgseth zu sagen pflegte: Wenn jemand etwas auf dem Herzen hat und zu reden begonnen hat, lass ihn ausreden. Bis zum Ende. Auch wenn dir das, was er zu sagen hat, nicht schmeckt.
    »Von denen gibt’s hier viel zu viele.« Skagestad schüttelt wieder den Kopf. »Ich habe nichts dagegen, Menschen dort zu helfen, wo sie herkommen, aber wenn sie hier leben wollen, sollen sie sich verdammt noch mal an unsere norwegischen Gesetze halten und die Kultur und Lebensart respektieren, die wir im Laufe einer langen Zeit aufgebaut haben.«
    »Es ist nicht sicher, dass ein Einwanderer die Tat begangen hat«, sagt Henning.
    »Unsinn. Bei uns in Norwegen hat es noch nie Steinigungen gegeben.«
    Es ist zu früh am Morgen für eine Debatte über Einwanderer.
    »Wieso sind Sie in das Zelt hineingegangen?«, fragt er stattdessen.
    »Tja, sagen Sie es mir. Ich weiß es nicht genau. Es stand tags zuvor noch nicht dort. Ich gehe ja jeden Tag hier spazieren, da war ich neugierig.«
    »Haben Sie jemanden gesehen?«
    »In der Regel sieht man immer jemanden, aber in diesem Fall nicht. Ich habe jedenfalls niemanden bemerkt, als ich hier entlanggegangen bin. Ich wohne im Samvirkeveien.«
    »Können Sie den Tatort beschreiben?«
    »Tatort?«
    »Ja. Wie sah es im Zelt aus, hat sich Ihnen irgendetwas besonders eingeprägt?«
    Skagestad holt Luft.
    »Ich bin das alles doch schon mit der Polizei durchgegangen.«
    »Schon, aber womöglich haben Sie sich nicht an alles erinnert. Das Gehirn ist in dieser Beziehung ziemlich speziell. Unmittelbar nach einem traumatischen Erlebnis erinnern wir uns in den seltensten Fällen an alle Details. Wenn ein wenig Zeit verstrichen ist, können Dinge in Ihrer Erinnerung auftauchen, die Sie vielleicht für unwichtig halten, die aber trotzdem von großer Wichtigkeit sind.«
    Ich klinge wie ein Polizist, denkt Henning. Aber es

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