Sterblich
Handstand. Der Trainer fordert ihn streng auf, wieder mit den Füßen auf den Boden zu kommen, weil gleich das Spiel losgeht.
Sie haben viel zu große Trikots an, lilafarbene. Die Farben des Stadtteils: Grüners Lila. Jonas sah so süß aus in diesen Trikots. Weiße Shorts und weiße Socken. Henning schließt die Augen und versucht, ihn sich vorzustellen. Zwei Jahre älter. Vielleicht wäre sein Haar jetzt lang. Jonas mochte lange Haare. Vielleicht ließen sich schon die Konturen eines großen Jungen erahnen, eines kleinen jungen Mannes. Vielleicht würde er allmählich beginnen, den Mädchen hinterherzugucken, was er natürlich hartnäckig leugnen würde.
Vielleicht.
Wenn.
Er macht die Augen auf. Die Chipstüte ist leer. Der Junge wirft sie zufrieden weg und nimmt einen Schluck Cola.
32
In dieser Nacht träumt er von Pistolen. Großen Pistolen, die Kugeln spucken, die auf ihn zufliegen. Er wacht aber jedes Mal auf, bevor sie ihn treffen.
Wie er es hasst, schlafen zu müssen.
Als er es am nächsten Morgen in seiner Wohnung nicht mehr aushält, beschließt er, sich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg zum Ekeberg zu machen. Er setzt sich auf seine hellblaue, verrostete Vespa und knattert durch die noch schlafende Stadt.
Früher ist er häufig zu den Tatorten der Fälle gefahren, über die er berichtet hat. Sein alter Lehrmeister Jarle Høgseth hatte ihm dazu geraten. Um ein Gefühl für die Umgebung zu entwickeln, sollte man am besten so zeitnah wie möglich zu den Verbrechen am Tatort sein. Es bestand immer die Möglichkeit, dort Details zu finden, die man nicht über Interviews, Polizeiberichte oder Zeugenaussagen bekommen konnte.
Jarle Høgseth war ein kluger Mann, sah man einmal von seinem Zigarettenkonsum ab.
Henning parkt neben dem asphaltierten Weg, der sich von der Ekebergschule quer über den Ekeberg zieht. Das Zelt steht noch immer dort, umrahmt von dem Absperrband der Polizei. Außer ihm ist kein Mensch unterwegs. Aber es ist ja auch erst kurz nach sechs.
Er sieht sich um. Beim Ekeberg Gård grast ein einsames Pferd. Da, wo die großen Birken aussehen, als wären ihre Stämme zusammengewachsen, läuft ein Hund über den Rasen. Er hat einen Stock im Maul.
Henning geht zu dem Zelt und versucht, sich vorzustellen, was sich hier abgespielt hat. Henriette Hagerup in dem Erdloch, von einer Stun Gun betäubt. Ein Mann bewirft sie mit Steinen, peitscht sie aus und hackt ihr eine Hand ab. Vermutlich konnte sie nicht einmal mehr schreien, ehe es zu spät war. Jedenfalls hat niemand etwas gehört.
Sie muss im Laufe der Nacht oder sehr früh am Morgen ermordet worden sein. Und sie muss freiwillig zum Zelt gekommen sein. Niemand kann einen bewusstlosen Menschen durch den ganzen Park schleppen, ohne aufzufallen. Nicht einmal mitten in der Nacht. Irgendjemand ist immer unterwegs. Also musste sie jemanden getroffen haben, den sie kannte. Ob die Filmaufnahmen etwas damit zu tun haben?
Er wird aus seinen Gedanken gerissen, als ein Hund an ihm hochspringt. Er kann kaum die Hände zum Schutz nach oben reißen, als der Hund auch schon nach seinem Arm schnappt. Er zuckt zusammen, macht einen Schritt nach hinten und schubst den kräftigen Rüden weg. Er beißt nicht, knurrt aber. Der Besitzer kommt angelaufen.
»Aus!«
Der Mann klingt energisch. Der Hund schnurrt um Hennings Beine, ehe er widerstrebend zu seinem Herrchen zurückläuft.
»Tut mir leid«, sagt der ältere Mann und hebt entschuldigend die Hände. »Er will nur spielen. Ein verspielter Bursche, wissen Sie. Alles in Ordnung? Er hat Sie doch nicht gebissen, oder?«
Henning hat nichts gegen Spielereien, aber auf Mordversuche kann er gut verzichten. Er hätte nicht schlecht Lust, diesem Idioten von einem Hundebesitzer eine Standpauke zu halten, weil er diese Mordwaffe von Köter frei in der Gegend herumlaufen lässt, tut es aber nicht, weil ihm in diesem Augenblick einfällt, was die Polizeichefin Nøkleby bei der Pressekonferenz gesagt hat.
Die Leiche wurde von einem älteren Mann entdeckt, der mit seinem Hund unterwegs war. Wir haben um 06.09 Uhr von dem Fund erfahren.
Er schaut auf die Uhr. Gleich zehn nach. Er atmet tief ein und sieht den Mann an.
»Alles in Ordnung«, sagt er und klopft sich die Hundehaare von der Hose, um nicht noch Tage später Freude an dieser Begegnung zu haben.
»Ein lebendiger Kerl«, sagt er und versucht sich an einem Lächeln.
»Ja, der hat Pfeffer im Hintern. Kama Sutra heißt er.«
Henning sieht den Mann
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