Sterblich
Sein Artikel über Tariq Marhoni ist noch immer die letzte Meldung. Am rechten Bildrand kann er erkennen, dass sein Beitrag der meistgelesene der letzten vierundzwanzig Stunden ist.
Als er ihn anklickt, um zu überprüfen, ob alles so ist, wie es sein soll, spuckt er den ersten Schluck Kaffee, den er gerade erst genommen hat, vor Entsetzen fast wieder aus. Ungläubig starrt er auf den Bildschirm. In der Autorenzeile steht sein Name, mit Bild. Und sogar der Lauftext ist mit einem Foto von ihm illustriert worden.
Der Chef vom Dienst blickt erschrocken auf, als Henning auf ihn zustürmt. Er sagt nichts, richtet sich aber auf.
»Haben Sie diesen Artikel so ins Netz gestellt?«, poltert Henning los.
»Ihren Artikel?«
»Ja, den über Tariq Marhoni.«
»Wann wurde der eingesandt?«
»Gestern Abend!«
»Ich habe erst um Mitternacht angefangen, das muss dann vorher passiert sein.«
Henning schüttelt den Kopf und flucht innerlich.
»Stimmt was nicht?«
»Und ob da was nicht stimmt! Ich wollte bei diesem Artikel auf gar keinen Fall genannt werden, und jetzt ist sogar ein dickes Foto von mir abgedruckt worden!«
Sein Gegenüber sagt nichts. Die junge Frau, die auf der anderen Seite sitzt, hackt weiter auf ihre Tastatur ein, als wäre nichts geschehen. Henning seufzt resigniert.
»Kann man herauszufinden, wer das war?«
»Ja, warten Sie einen Moment.«
Der Chef vom Dienst bearbeitet seine Tastatur. Henning geht um den Schreibtisch herum und stellt sich hinter ihn. Der Mann öffnet das Publikationsprogramm und klickt das Logfile des Artikels an. Dann räuspert er sich.
»Der wurde gestern Abend von Jørgen eingestellt, um 20.03 Uhr. Jørgen hat dann noch zweimal redigiert, das erste Mal um 20.06 Uhr und das zweite Mal zwei Minuten später, ehe Heidi den Artikel dann noch einmal bearbeitet hat, um 21.39 Uhr und um 21.42 Uhr.«
»Heidi Kjus?«
»Ja.«
Hennings Wangen werden heiß. Wortlos geht er zurück zu seinem Platz. Heidi kann froh sein, dass sie noch nicht da ist.
Als sie eine halbe Stunde später auftaucht, kommt sie direkt zu ihm. Mit wütendem Blick. Damit wären wir schon zwei, denkt Henning.
»Warum gehst du nicht ans Telefon, wenn ich dich anrufe?«, fragt sie und schmeißt ihre Tasche auf den Tisch. Er ist etwas perplex.
»Ich …«
»Wenn ich dich anrufe, gehst du dran, verstanden? Und wenn es mitten in der Nacht ist. Ist das klar?«
»Nein.«
»Was hast du gesagt?«
Sie stemmt die Hände auf die Hüften.
»Ich habe Nein gesagt. Wenn ich nicht bei der Arbeit bin, bin ich nicht bei der Arbeit. Ich unterliege keiner Meldepflicht. Und warum zum Henker hast du mein Konterfei in die Autorenzeile gesetzt? Ich habe doch wohl klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ich das bei dem Tariq-Artikel nicht will!«
Jetzt ist Heidi perplex.
»Ich …«
»Ist dir eigentlich klar, wie leicht du es dem Täter dadurch gemacht hast, mich zu finden, wenn er es drauf anlegt?«
Sie denkt nach, sammelt sich.
»Hier schreiben alle mit Autorenzeile«, beginnt sie vorsichtig, ihre Stimme wird aber immer schriller. »Wenn wir nicht den Mumm haben, mit Bild und vollem Namen für das einzustehen, was wir schreiben, brauchen wir gar nicht mehr zu publizieren.«
Er traut seinen Ohren nicht, antwortet mit einem knappen »Hm« und starrt sie an.
»Außerdem ist dein Name und dein Gesicht heute in allen Zeitungen, da wäre es schon sehr merkwürdig, wenn ausgerechnet wir das nicht abdrucken würden.«
Er sieht sie an, unfähig, etwas zu sagen. Denn mit dieser Feststellung hat sie nicht ganz unrecht. Verflucht, denkt er, das stimmt.
Heidi setzt sich und beginnt ihr Morgenritual. Computer an, Handy aus der Tasche, Kalender aufschlagen. Sie hat gewonnen. Diese dumme Kuh hat tatsächlich gewonnen.
Und das an einem Tag, der so gut begonnen hat.
34
Heidi läuft hin und her, während er still seinen Kaffee trinkt. Bestimmt viele wichtige Termine, denkt er. Jedes Mal, wenn sie sich hinsetzt, sieht sie ihn kurz an, ehe ihr Blick wieder geschäftsmäßig wird.
Es wird acht, ohne dass Lord Cordsamt auftaucht. Vermutlich hat er am Abend zuvor noch lange gearbeitet. Vielleicht ist er einer Sache auf der Spur und hat längst was abgeliefert. Henning entschließt sich, ihn anzurufen, auch wenn ihr letztes Telefonat nicht gerade herzlich war. Manchmal muss man einfach den inneren Schweinehund überwinden und dem anderen die Hand reichen, auch wenn Henning das alles andere als leichtfällt.
Gundersen meldet sich sofort, mit
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