Sterblich
dass sie beim Anblick seines Gesichts einen Schritt nach hinten macht, aber das tut sie nicht. Sie sagt nur: »Ja.«
Er lässt noch eine Weile verstreichen. Sieht, dass sie nicht in der Lage ist zu sprechen. Aber sie weint auch nicht.
»Sind Sie Anette?«, fragt er schließlich.
Sie zuckt zusammen.
»Kenne ich Sie?«
»Nein.«
Er wartet noch einen Moment, gibt ihr ein paar Sekunden Zeit, die Situation zu überdenken. Er will sie nicht verschrecken, sondern ihr Interesse wecken. Er sieht, dass sie ihn anstarrt. Ein verängstigter Zug huscht über ihr Gesicht, als wollte sie sich gegen das wappnen, was er zu sagen hat.
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
In ihrer Stimme schwingt Nervosität mit. Er wendet sich zu ihr um. Zum ersten Mal kann sie ihn ganz sehen, mit all seinen Narben. Trotzdem macht es nicht den Eindruck, als würde sie ihn sehen . Er beschließt, die Karten auf den Tisch zu legen, bevor die Angst sie ganz lähmt.
»Ich heiße Henning Juul.«
Ihr Gesicht verändert sich nicht.
»Ich arbeite für 123nyheter .«
Die Maske der Neugier beginnt zu bröckeln.
»Darf ich ein paar Fragen stellen? Keine bohrenden, sensationsgierigen, taktlosen Fragen, einfach nur ein paar Fragen zu Henriette?«
Der apathische Blick, mit dem sie die sterbenden Teelichter betrachtet hat, ist verschwunden.
»Woher wissen Sie, wer ich bin?«, wiederholt sie und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ich habe es geraten.«
Sie betrachtet ihn mit einem Anflug von Gereiztheit.
»Bei den vielen Menschen, die sich hier herumdrücken, erraten Sie ausgerechnet, dass ich Anette bin? Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Ja.«
Sie schnaubt. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Nur ein paar Fragen, dann gehe ich wieder.«
»Ihr Journalisten behauptet immer, nur ein paar Fragen zu haben, und am Ende sind es hundert.«
»Okay, eine. Ich gehe, wenn Sie mir nur eine Frage beantworten. Einverstanden?«
Er sieht sie an, lange. Sie lässt ihn in der Stille stehen, bevor sie die Schultern hebt und wieder sinken lässt. Er versucht zu lächeln, merkt aber schnell, dass sein Charme, der bei den meisten Interviewpartnern nicht ohne Wirkung bleibt, bei ihr nur vergebliche Liebesmüh ist.
Sie macht eine Bewegung mit dem Kopf und seufzt.
Henning deutet die Geste als ein Ja und sagt: »Was war das für eine Arbeit, die Henriette angefangen hat und die Sie zu Ende bringen wollen?«
Sie sieht ihn an.
»Ist das Ihre Frage?«
»Ja.«
»Nicht: Wie wirst du Henriette in Erinnerung behalten? Oder: Kannst du etwas über Henriette sagen, das unseren Lesern die Tränen in die Augen treibt, oder solchen Mist?«
Sie verstellt ihre Stimme, klingt wie ein nörgeliges Kind. Er schüttelt den Kopf. Sie schnauft. Dann sieht sie ihn wieder an. Ihr Blick bohrt sich in seine Augäpfel, bevor sie den Kopf schüttelt, sich umdreht und geht.
Klasse, Henning, denkt er. Toll gemacht. Wahrscheinlich verschwindet da gerade der einzige interessante Mensch in der Schar der Weinenden. Sie ist keine Schönheit im klassischen Sinn. Er vermutet, dass sie in ihrer Klasse nicht in der ersten Reihe sitzt und sich nicht vordrängelt, wenn Klassenfotos gemacht werden. Er stellt sie sich vor, vor dem Spiegel, wie sie genervt seufzt, wie sie sich Typen mit verschleiertem Bierblick hingibt, spät in der Nacht, und nach Hause geht, bevor es hell wird.
Aber Anette, du bist interessant, würde er ihr am liebsten hinterherrufen.
Plötzlich geht ihm auf, was er in ihren Augen gesehen hat. Er schaut sich die Fotos noch einmal an, als sie um das Schulgebäude biegt. Er blättert sich zu einem der ersten Bilder durch, das er von ihr gemacht hat, sieht sich ihre Augen noch einmal an und bekommt die Bestätigung.
Das Gefühl, das sich einstellt, kennt er, das hat er immer, wenn er etwas verstanden hat oder auf etwas Wichtiges gestoßen ist. Als er das Bild vergrößert und sich die Frau erneut ansieht, überlegt er, wovor Anette wohl Angst hat.
15
»Das stinkt doch eindeutig nach schuldig.«
Bjarne Brogeland lässt die Feststellung unkommentiert im Raum stehen. Er sieht den Ermittlungsleiter Arild Gjerstad an, der ihm am Tisch im Sitzungszimmer gegenübersitzt und den Mitschnitt des Verhörs durchblättert. Er nickt nicht, schüttelt nicht den Kopf. Ella Sandland sitzt an der schmalen Tischseite, vornübergebeugt, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die Hände gefaltet.
Zwei weitere Ermittler, Fredrik Stang und Emil Hagen, sind ebenfalls anwesend, darüber
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