Sterblich
hinaus die Polizeichefin Pia Nøkleby. Die formelle Verantwortung für die Ermittlungen liegt bei ihr, obgleich alle Entscheidungen grundsätzlich in enger Zusammenarbeit mit Gjerstad getroffen werden. Alle Blicke sind auf Gjerstad gerichtet, in Erwartung, dass er etwas sagt. Wie immer, wenn er nachdenkt, zieht er Daumen und Zeigefinger durch den Bart aufeinander zu.
»Er ist in Erklärungsnot, so viel steht fest«, sagt Gjerstad mit leiser Bassstimme. »Trotzdem …«
Er schiebt die Unterlagen beiseite, nimmt die Brille ab, legt sie auf den Tisch und reibt sich mit den Händen über das Gesicht. Danach nagelt er Brogeland mit dem Blick fest.
»Sie hätten das Verhör fortsetzen sollen, als er endlich gesagt hat, er wäre unschuldig.«
»Aber …«
»Mir ist schon klar, wieso Sie an der Stelle abgebrochen haben. Sie wollten ihm etwas geben, worüber er nachdenken konnte. Aber wie ich seine Aussage lese, war er kurz davor umzukippen. Er hätte uns noch viel mehr erzählen können, wenn Sie ihm noch ein klein wenig Zeit gelassen hätten.«
»Das wissen wir nicht«, antwortet Brogeland.
»Hatten Sie es eilig?«
»Eilig?«
Brogeland merkt, dass er ein heißes Gesicht bekommt. Gjerstad sieht ihn an.
»Geben Sie ihm das nächste Mal etwas mehr Zeit.«
Brogeland schrumpft auf seinem Stuhl zusammen. Am liebsten würde er Widerspruch einlegen, aber nicht vor der ganzen Gruppe, schließlich will er nicht riskieren, noch mehr gedemütigt zu werden.
Gjerstad schaut schräg nach rechts, als würde er etwas an der Wand suchen.
»Es gibt klare Beweise, die in Marhonis Richtung deuten. Und es liegt nah, an Ehrenmord zu denken. Falls die Freundin untreu war, hat er sie vielleicht umgebracht, um seine Ehre wiederherzustellen.«
Sandland räuspert sich. »Es deutet nur sehr wenig auf einen Ehrenmord hin«, sagt sie.
Gjerstad wendet sich ihr zu.
»In manchen Ländern reicht schon der Verdacht der Untreue, um zum Tode durch Steinigen verurteilt zu werden. Im Sudan zum Beispiel wurde 2007 …«
»Marhoni ist aus Pakistan«, wirft Gjerstad ein.
»Ja, aber dort wurden auch Menschen gesteinigt. Im Hinblick auf Ehrenmord fehlen aber eine Reihe Dinge«, fährt Sandland fort.
Gjerstad sieht sie an und gibt ihr mit seinem Blick zu verstehen, dass sie weiterreden soll. Nøkleby schiebt die Brille näher an die Nasenwurzel und lehnt sich vor. Ihr dunkles Haar fällt ihr vor die Augen, was sie nicht zu stören scheint.
»Es kommt meistens dann zu Ehrenmorden, wenn die Schande öffentlich bekannt geworden ist«, beginnt Sandland. »Bisher haben alle Befragten bestätigt, dass Hagerup und Marhoni ein Paar waren. Ehrenmorde werden oft im Voraus geplant. Der Beschluss wird häufig in der Familie gefasst. Soweit ich weiß, hat Marhoni keine Familie in Norwegen, außer seinem Bruder, der bei ihm wohnt. Und nicht zuletzt: Man steht zu dem, was man getan hat. Marhoni erklärt aber, dass er unschuldig ist.«
Gjerstad lässt den kurzen Vortrag auf sich wirken und nickt anerkennend.
»Was wissen wir über Steinigungen?«, fragt Emil Hagen.
Hagen ist ein untersetzter Mann, der frisch von der Polizeihochschule kommt. Brogeland kennt den Typ. Übereifrig, initiativ und von der Vision erfüllt, mit jedem gefassten Schurken die Welt ein bisschen besser zu machen. Nur weiter so, Emil, denkt Brogeland. Du wirst schon früh genug auf dem Boden der Tatsachen landen, wie jeder von uns. Emil ist ein Blondschopf, sieht aus wie die erwachsene Ausgabe von Michel aus Lönneberga und hat eine breite Lücke zwischen den Vorderzähnen.
»Heute wird diese Methode offiziell nur noch im Iran angewendet«, erklärt Sandland. »In anderen Ländern findet man sie noch als eine Form von Selbstjustiz. Mit Steinigung bestraft werden hauptsächlich Untreue, Unzucht und Blasphemie. 2007 wurde Jafar Keyiani im Iran zu Tode gesteinigt. Es war das erste Mal seit 2002, dass der Iran offiziell eingeräumt hat, diese Form von Todesstrafe angewendet zu haben.«
»Was hat er getan?«, fragt Nøkleby.
»Was sie getan hat, meinen Sie?«
Nøkleby senkt beschämt den Kopf.
»Sie hatte eine außereheliche Beziehung.«
Die übrigen Mitglieder der Ermittlungsgruppe sehen Sandland an. Fredrik Stang stellt sein Glas Wasser zur Seite.
»Ich verstehe das nicht ganz, haben wir nicht jemanden in Untersuchungshaft?«, fragt er. Stang hat kurzes, dunkles Haar, fast militärisch kurz, und ein Gesicht, das permanent eine große Ernsthaftigkeit ausstrahlt. Er trägt mit Vorliebe eng
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